Erdogan setzt immer stärker auf die islamische Karte

Istanbul · Recep Tayyip Erdogan hat noch nie ein Geheimnis aus seiner Frömmigkeit gemacht. Doch jetzt betont der türkische Staatspräsident im Wahlkampf seine Islam-Treue so nachdrücklich, dass er sogar mit einem Koran in der Hand auftritt.

Die Opposition verdammt er als religionsfeindlich und ruft die Wähler auf, den gottlosen Gesellen am Wahltag am 7. Juni eine Lektion zu erteilen.

"Ich bin mit dem Koran aufgewachsen und lebe mit dem Koran ", sagte Erdogan jetzt bei einer Rede im südostanatolischen Siirt. Mit dem heiligen Buch des Islam in der Hand attackierte er den säkularistischen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der Erdogan vorgeworfen hatte, den Glauben politisch auszubeuten. Bei ihm selbst spiele der Koran eine große Rolle, sagte Erdogan - bei Kilicdaroglu sei das wohl anders.

Bei mehreren Auftritten im Kurdengebiet in den vergangenen Tagen griff Erdogan zudem die Kurdenpartei HDP und deren Vorsitzenden Selahattin Demirtas scharf an. Auch dabei setzte der Präsident auf religiöse Töne, denn viele Kurden sind islamisch-konservativ. Demirtas hatte den Istanbuler Taksim-Platz als Mekka der Opposition bezeichnet. Erdogan konterte, die Wähler wüssten sehr wohl, wo das wahre Mekka liege.

Nicht nur der Präsident hat die Religion als Thema entdeckt. Demirtas fordert die Abschaffung des staatlichen türkischen Religionsamtes, das alle 80 000 Moscheen im Land verwaltet und dem vorgeworfen wird, sich nur um sunnitische Muslime zu kümmern. Für Gesprächsstoff sorgt auch Religionsamtschef Mehmet Görmez, weil er sich einen 300 000 Euro teuren Dienstwagen leistete.

Dass die Religion zum Thema im türkischen Wahlkampf wird, liegt vor allem an Erdogan. Der Präsident will mit der Betonung seiner Islam-Treue offenbar etwas gegen die sinkenden Umfragewerte der AKP unternehmen. Erdogan zielt damit auf die Mehrheit der islamisch-konservativen Wähler in Anatolien. Die AKP wird bei den Parlamentswahlen am 7. Juni laut den Voraussagen bei etwa 40 Prozent landen. Damit bliebe sie stärkste Partei, doch die parlamentarischen Mehrheiten zur Einführung des von Erdogan angestrebten Präsidialsystems liegen für sie derzeit in weiter Ferne. Besondere Bedeutung kommt Demirtas' Kurdenpartei HDP zu: Schafft sie es, die Zehnprozent-Hürde für den Parlamentseinzug zu überwinden, schrumpft der Sitzanteil der AKP im Parlament.

Offiziell muss sich Erdogan als Staatsoberhaupt aus der Parteipolitik und dem Wahlkampf heraushalten. Doch der 61-jährige zieht unbekümmert über die Marktplätze und fungiert fast jeden Auftritt zu einer Wahlkampfveranstaltung um. Die Kritik der Opposition, die von einer Verletzung seines Amtseides spricht, lässt ihn kalt. Natürlich sei er nicht neutral, sagte er jetzt: "Ich stehe auf der Seite der Nation." Die Wahlkommission in Ankara lässt Erdogan gewähren.

Die Frage lautet, ob Erdogan mit seinen Koran-Reden und seiner Verachtung für die Regeln seines Amtes der AKP tatsächlich nützt. Der nominelle AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu soll über das Engagement alles andere als erfreut sein. Einige Beobachter sehen auch bei einfachen Wählern einen gewissen Unmut darüber, dass Erdogan das Präsidentenamt so ungeniert parteipolitisch einsetzt.

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