Erdogan kommt mit guten Karten nach Brüssel
Ankara/Brüssel · Der türkische Staatspräsident hat einen angenehmen Besuch vor sich. Denn wenn Recep Tayyip Erdogan heute nach Brüssel kommt, muss er nicht befürchten, dass ihn die EU-Spitze mit lästigen Menschenrechts-Diskussionen nervt.
Stattdessen werde der "Gabentisch reich gedeckt", betonte jetzt ein hochrangiges Führungsmitglied des EU-Parlaments.
"Fast alles, was in den vergangenen Jahren von Erdogan gefordert, aber abgelehnt wurde, dürfte dieses Mal möglich sein." Visa-freie Einreise für türkische Staatsangehörige, Milliarden-Zuschüsse, zusätzliche Erleichterungen für Türken, die in den EU-Ländern leben und arbeiten wollen - einige Diplomaten schließen nicht einmal aus, dass es bei den dahinsiechenden Beitrittsgesprächen neuen Schwung geben könnte. Der Grund: "Wir brauchen die Türkei", sagte ein Kommissionsdiplomat.
Der einstige Buhmann ist zur Schlüsselfigur für die Lösung des derzeit wichtigsten Problems der EU geworden. Denn die Gemeinschaft setzt auf die Zusage Ankaras, seine Grenzen für Flüchtlinge zu schließen, um den Strom eindämmen zu können. "Seine Verhandlungsposition wird von Tag zu Tag stärker", heißt es im Auswärtigen Dienst der EU. Mindestens zwei Millionen Flüchtlinge vor allem aus Syrien sind in das Nachbarland geflüchtet und leben dort in Zeltstädten, die von Mitarbeitern des Welternährungsprogramms der UN betreut werden. Die Zustände seien allerdings "menschenunwürdig". Das gilt als wesentlicher Grund dafür, dass sich immer wieder Menschen auf den Weg nach Europa machen. Erst am Freitag bezifferte das Flüchtlingshilfswerk der Uno die Zahl derer, die seit Jahresanfang von der Türkei aus in Richtung der griechischen Insel Lesbos aufgebrochen sind, auf rund 208 000. Auf Kos wurden 40 000 gezählt. Ankara könnte dem einen Riegel vorschieben.
Die EU ist bereit zu zahlen. Beim Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zur Migration vor gut zwei Wochen billigten die Staatenlenker rund 1,8 Milliarden Euro, mit denen die Auffang-Lager auf türkischem Boden unterstützt werden sollen, um den geflohenen Syrern (rund 70 Prozent), Afghanen (18 Prozent) und Pakistani (drei Prozent) das Überleben zu erleichtern. Dass Erdogan noch vor wenigen Wochen von der EU scharf kritisiert wurde, als er unter dem Vorwand, sich an den Luftangriffen der internationalen Allianz auf die Terroristen des Islamischen Staates (IS) zu beteiligen, kurdische Freiheitskämpfer angriff, scheint die EU-Spitze im Gegenzug großzügig übersehen zu wollen. "Man wird in der Frage ein Auge zudrücken", spekulierte ein Mitglied der Chefetage in der europäischen Volksvertretung. Schließlich weiß man nicht nur in Brüssel, dass Erdogan auch beim Kampf gegen den IS-Terror zu einem unverzichtbaren Partner geworden ist. EU und Nato wollen vor allem verhindern, dass er sich auf die russische Seite schlägt. Er soll als Mitglied der Allianz den Westen unterstützen.
Dafür ist Europa bereit, ihm sehr weit entgegenzukommen - und den Präsidenten, der sich gerade im Neuwahlkampf befindet, darüber hinaus als Gesprächspartner auf Augenhöhe zu adeln. Für Erdogan ein lukratives Angebot, um aus der Ecke des diktatorischen Staatsoberhauptes herauszukommen, das seine Macht festigen will, Oppositionelle unterdrückt, die freie Presse attackiert und Kurden bekämpft.