England versinkt immer tiefer im Missbrauchssumpf

London · Die Polizei wählte für ihre Pressekonferenz einen Ort aus, dessen prachtvolle Größe allein viel über die Ausmaße der Untersuchungen aussagt. Vor dem herrschaftlichen Anwesen des ehemaligen britischen Premierministers Sir Edward Heath stand der Beamte und berichtete von den schier unfassbaren Anschuldigungen: Der Ex-Regierungschef, von 1970 bis 1974 im Amt, soll Jungen missbraucht haben.

Und wie bereits in den zahlreichen Missbrauchsfällen, die in den letzten Jahren die Insel erschüttert haben, soll auch der 2005 verstorbene prominente Politiker von den zuständigen Behörden gedeckt worden sein. Nun hat das Thema also auch die Downing Street erreicht.

Mittlerweile laufen Ermittlungen gegen den lebenslangen Junggesellen in fünf Grafschaften. Neben Wiltshire, London , Kent und der Kanalinsel Jersey bestätigte am gestern Morgen auch die Grafschaft Hampshire, dass sie Vorwürfen gegen den ehemaligen Parteivorsitzenden der konservativen Tories nachgehe. Ein 65-Jähriger behauptet, so schreibt der "Telegraph", er sei 1961 als zwölfjähriger Strichjunge von dem Abgeordneten Heath in dessen Wohnung vergewaltigt worden. Als der Jugendliche kurz danach Sozialarbeitern von dem Missbrauch erzählte, sei er als "Lügner und Fantast" abgestempelt worden. Auch anderen Vorwürfen wurde nie nachgegangen. So habe eine Frau, die ein illegales Bordell führte und vor Gericht gestellt werden sollte, in den 90er Jahren gedroht, im Falle einer Anklage gegen Heath auszusagen. Angeblich ließ man daraufhin von ihr ab. Jetzt aber soll alles aufgearbeitet werden. Keiner werde verschont, heißt es, auch nicht das Establishment. Es ist eine beispiellose Ermittlungsreihe, die der Staat mit rund 18 Millionen Pfund unterstützt. Mittlerweile werden alle Gesellschaftsschichten durchkämmt: die Kirche, die Justiz, Krankenhäuser, das Parlament, das Showbusiness und die Polizei .

Nicht nur kam erst im vergangenen Jahr heraus, dass im nordenglischen Rotherham über 16 Jahre lang mindestens 1400 Kinder als Opfer von Sexualstraftätern vergewaltigt, geschlagen, zur Prostitution gezwungen und versklavt wurden. Auch in der Hochglanzwelt der Promis wurde es gruselig, sobald das Scheinwerferlicht aus war. Begonnen hat die juristische Aufarbeitung erst spät im Zuge der Ermittlungen um den mittlerweile verstorbenen Star-Moderator Jimmy Savile, der über Jahrzehnte Hunderte Kinder und Erwachsene missbrauchte und sich sogar an Leichen vergangen haben soll.

Anfang des Jahres ist der 70-jährige Glam-Rock-Musiker Gary Glitter des Missbrauchs Minderjähriger sowie der versuchten Vergewaltigung schuldig gesprochen worden. 2014 wurde der ehemalige BBC-Starmoderator Rolf Harris verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der 84-Jährige zwischen 1968 und 1986 mehrere Mädchen und junge Frauen belästigte und vergewaltigte.

Medien kritisieren, dass die britische Kultur der Zurückhaltung und Höflichkeit ihren Teil zu dem Skandal beigetragen hat. Zahlreiche Opfer gingen zur Polizei , doch sie fanden kaum Gehör. Die Bedeutung der Aufarbeitung zeigen ihre Ergebnisse. Doch angesichts des Ausmaßes und der Anzahl der involvierten Ermittler kann damit gerechnet werden, dass der britischen Öffentlichkeit zahlreiche weitere schreckliche Enthüllungen bevorstehen.

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