Einmal Opfer, immer Opfer?

Es hat lange gedauert, bis die EU den Ernst der Lage begriffen hat. Die Unfähigkeit der europäischen Innenminister, sich auf die Aufnahme und Verteilung von 120 000 Flüchtlingen zu verständigen, war ein Tiefpunkt in der Geschichte dieser Union.

Heute wollen die Europa-Abgeordneten die Scharte auswetzen und ihrerseits beschließen, dass die Menschen aus ungarischen, italienischen und griechischen Auffang-Lagern einreisen dürfen. Es ist ein Zeichen, ein Symbol. Ein solcher Beschluss heute wäre wichtig, aber er bringt keinen Durchbruch. Der Graben zwischen den Mitgliedstaaten ist längst so tief, dass er nicht mehr mit Beschwörungen der Solidarität gekittet werden könnte. Die einen wie Deutschland und Schweden wollen ihre Last auf viele Schultern verteilen. Die anderen wie Ungarn oder Tschechien pochen auf finanzielle Hilfen für die Menschen in den jordanischen und türkischen Auffang-Lagern, damit der Strom erst einmal eingedämmt wird, ehe man an einen Verteilschlüssel auch nur denkt. Beides wäre nötig. Erreicht wurde - bisher - gar nichts. Auf Kosten derjenigen, die vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen sind.

Einmal Opfer, immer Opfer? Dabei stimmt die gängige Einteilung der EU in gute und böse Mitglieder nicht. An der Seite der Bundeskanzlerin fordert der französische Staatspräsident endlich eine Quote, für deren Ablehnung er lange geworben hat. London, Dublin und Kopenhagen nehmen am EU-Asylsystem ohnehin nicht teil - als ob das ein Grund wäre, seine Partner in einer solchen Krise im Regen stehen zu lassen. Und im Osten definiert man Solidarität einfach so lange um, bis man seinen nationalen Egoismus zum Grundprinzip allen Handelns machen kann: Hauptsache das eigene Land bleibt sauber.

Derweil schaffen Deutschland und Schweden Fakten, die andere als Erpressung empfinden müssen. Es fällt schwer, europäische Solidarität zu erkennen. Denn so lange es keine Lösung gibt, bleibt es auch ein Versagen aller. Dabei könnte Europa weitaus mehr tun als bisher. Die schnelle Registrierung der Ankommenden in Asylzentren beschädigt das Recht auf Schutz für Kriegsopfer nicht. Ein konsequenter Grenzschutz verstößt nicht gegen die Menschlichkeit, wenn man sich um humanitäre Standards bemüht und Flüchtlinge nicht in Lagern wie Vieh hält und sie mit weniger als 1000 Kalorien am Tag abspeist. Brüssel könnte seine diversen Förderfonds öffnen, damit Unterkünfte bezuschusst werden. Für die Menschen in jordanischen und türkischen Auffangzentren müsste man Fördermittel bereitstellen. Der Gemeinschaft ist nicht nur die Solidarität verloren gegangen, sondern auch die politische Kreativität für eine schnelle Antwort auf die Herausforderung.

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