Ein Volk von Wehleidern?

Meinung · Seit Jahren verschärfen sich die Botschaften über die neuen "Volksseuchen": mentale Erschöpfung, Burnout, Depression. Die Fallzahlen explodieren. Im Saarland stiegen sie zwischen 2007 und 2009 um 14 Prozent. Außerdem "entdeckten" die Medien prominente Kranke - am spektakulärsten geriet dies im Fall von Torwart Robert Enke, der 2009 Selbstmord beging

Seit Jahren verschärfen sich die Botschaften über die neuen "Volksseuchen": mentale Erschöpfung, Burnout, Depression. Die Fallzahlen explodieren. Im Saarland stiegen sie zwischen 2007 und 2009 um 14 Prozent. Außerdem "entdeckten" die Medien prominente Kranke - am spektakulärsten geriet dies im Fall von Torwart Robert Enke, der 2009 Selbstmord beging. Und umgekehrt entdecken immer öfter Prominente die entlastende Funktion öffentlicher Bekenntnisse, wie jüngst Fußballtrainer Ralf Rangnick.Doch wenn alle enttabuisieren, warnen und alarmieren, kann das gefährlich werden. Weil sich Übersättigung einstellt in Sachen nationaler "Psycho-Horrorladen". Nicht wenige neigen deshalb dazu, stressbedingte Krankheiten als "Mode-Erscheinung" abzutun. Sie stellen die Deutschen als ein nicht mehr belastbares Volk von Wehleidern hin und unterstellen, die Ärzte diagnostizierten gern mal "Burnout", wenn sie bei unspezifischen Symptomen nicht weiter wüssten. Daran mag ein Fünkchen Wahrheit sein. Doch zugleich kennt fast jeder aus eigener Erfahrung die bedrohliche Komponente dieser Krankheit. Die meisten dürften sogar schon "Therapien" nennen können: genug Schlaf und Bewegung, gesunde Kost, genügend Arbeitspausen, Zurückschrauben der eigenen Leistungsansprüche.

Das klingt so lächerlich einfach, dass es lohnt zu fragen, warum dieses Präventiv-Programm nicht greift. Studien wie die der IG Metall zeigen, dass unsere global-ökonomischen Verhältnisse dies verhindern. Das Dauer-Vollgasfahren im Job samt Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit ist meist Alltag - ein Seelen-Ausblutungs-System. Zudem erzeugen Leiharbeit, befristete Verträge und Minijobs ein Angst-Klima, das auch Festangestellte belastet. Hinzu kommt, dass die nachweislichen Stress-Gegenspieler in Betrieben kaum mehr auftauchen: Anerkennung und Wertschätzung. Letztere zeigen sich auch am Gehalt. Warum Führungskräfte, obwohl Bestleister und damit typische Burnout-Kandidaten, weniger gefährdet sind als ihre Mitarbeiter. Denn viele deutsche Arbeitnehmer verdienen seit Jahren immer weniger. So weitet sich ein "Psycho"-Phänomen zur Sozialklage. Die politischen Schlussfolgerungen? Mindestlohn einführen, Lohndumping einschränken. Zusätzlich müssten psychische Erkrankungen leichter als Berufskrankheit anerkennt werden. Betriebsärzte und Arbeitsschutz-Beauftragte könnten Prävention als Aufgabenfeld durchsetzen, also für Enttabuisierung sorgen. Denn das Thema Burnout mag zwar allgegenwärtig sein - "durchgekämpft" ist es nicht. Das ist erst dann der Fall, wenn Arbeitnehmer ihren Chef so selbstverständlich über seelische Probleme informieren wie über einen Beinbruch. Denn auch Burnout ist heilbar. Unter anderen, besseren Bedingungen in den Betrieben, in der Gesellschaft.

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