Ein tolerantes Land

Das Leben hat viele Wahrheiten, nicht nur eine. Der Mensch neigt dazu, sich die gerade passende Wahrheit herauszupicken und die unangenehme zu ignorieren. Ein typisches Beispiel ist der Umgang mit Ausländern.

Hier prallen oftmals Welten aufeinander.

Eine unbestreitbare Wahrheit heißt: Hunderttausende Menschen müssen fliehen, derzeit vor allem aus Syrien und dem Irak, weil es der Weltgemeinschaft nicht gelingt, fanatische Terroristen und andere Despoten zu stoppen. Wahr ist auch: Der Mensch fühlt sich wohl in seinem vertrauten Kulturkreis, "Fremdes" macht ihm erstmal Angst. Dieses Phänomen ist globaler Natur und wird von Verhaltensforschern bestätigt. Die dritte Wahrheit: Fremdenfurcht und Rassismus haben fließende Grenzen, der Schwerpunkt kann schnell kippen. Und noch etwas ist unanfechtbar: Deutschland ist aus ethischen, historischen und rechtlichen Gründen dazu verpflichtet, notleidenden Menschen zu helfen.

Wohin das Ausblenden "falscher" Wahrheiten führen kann, sehen wir bei den "Pegida"-Demonstrationen in Sachsen. Und in Franken, wo versucht wurde, Wohngebäude für Asylbewerber abzufackeln. Man muss nicht darüber reden, dass Gewalt gegen Sachen und erst recht gegen Personen indiskutabel ist und kriminell. Insofern liegt es auf der Hand, wenn Politiker und Journalisten, selbst die Kanzlerin, vor "Hetze gegen Ausländer" warnen und "Pegida" scharf attackieren. Allerdings: Wer es sich zu einfach macht und eine heterogene Gruppe von Wutbürgern als "islamophob" in die rechte Schmuddelecke stellt, zerstört jeden Konsensversuch schon im Ansatz.

Deutschland, so hieß es gestern auf der Konferenz der Innenminister, "ist ein weltoffenes, tolerantes Land". Es nimmt in diesem Jahr mindestens 200 000 Flüchtlinge und Zuwanderer auf - die sich wiederum selbst in einer völlig fremden Welt zurechtfinden müssen. Dieser schwierige Prozess erfordert das Entgegenkommen beider Seiten, zumal die sozialen und kulturellen Normen des Abend- und des Morgenlandes nicht kompatibel sind. Zur gern ausgeblendeten Wahrheit gehört nämlich auch, dass der Islam durchaus kritikwürdig ist, weil er westliche Liberalität ablehnt, die Freiheit des Individuums, die Gleichberechtigung der Frau und Rechte von Minderheiten negiert. Es stimmt, dass in Dresden auch Neonazis mitlaufen und "Pegida" für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Aber das sollte eine aufgeklärte Gesellschaft nicht daran hindern, die Sorgen und Ängste jener Bürger ernst zu nehmen, die nicht so geschliffen argumentieren können wie die wirtschaftlich abgesicherten Schlaumeier in den Talkshows, deren Villen weit entfernt von Asylbewerberheimen stehen.

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