Ein großer europäischer Tag

Heute vor 60 Jahren haben die Saarländer das Saarstatut abgelehnt und sich für den Wiederanschluss an Deutschland entschieden. Sie gaben ihre Teilautonomie auf und materielle Vorteile. Sie verzichteten zudem auf eine europäische Anführer-Rolle, auf eine blühende Europa-Metropole Saarbrücken.

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Foto: Robby Lorenz

Es bleibt ein historisches Geheimnis, ob sich diese Blühende-Landschaften-Vision je realisiert hätte. Die Behauptung von der verpassten historischen Chance ist deshalb unseriös, aber ein bisschen wehmütig darf man schon werden. Waren die "Neinsager" zum Saarstatut nun kluge oder verblendete Patrioten? Üblicherweise werden Fragen dieser Art eher akademisch und lauwarm diskutiert. Im Saarland nicht, das Thema provoziert immer noch. Dafür gibt es einen zentralen Grund: Enttäuschung. Denn anders als den DDR-Bürgern 1989 hat den Saarländern ihre Selbstbestimmung 1955 nicht wirklich viel gebracht - weder Wohlstand noch Respekt.

Die Saarländer erlebten nach 1955 recht schnell, dass man ihre Anliegen auf Bundesebene unter ferner liefen parkte. Bereits 1959 lehnte der deutsche Bundestag Kompensationshilfen für die entfallenen französischen Sozialleistungen (Kindergeld, Familiendarlehen) ab. Obwohl das Saarland unter der Umorientierung auf den neuen deutschen Wirtschaftsraum litt. Die Saarländer verstanden sich als die treuesten Kinder des Vaterlandes, waren aber zugleich die ärmsten. Das zehnte Bundesland wurde zum Kostgänger der übrigen Länder. Der legendäre saarländische Minderwertigkeitskomplex, er hat also eine sehr reelle Wurzel. Man muss sich immer wieder selbst zum Durchhalten motivieren. Doch spätestens seit der Schuldenbremse schwächelt die Zuversicht. Wir schaffen das? Eben nicht allein. Der heutige Festakt ist eine gute Gelegenheit, der Bundeskanzlerin dies historisch zu verdeutlichen.

Trotz all dem bietet das heutige Datum Anlass zu Stolz. Auch dazu, selbstbewusst eine "Anerkennungskultur" einzufordern. Es wird Zeit, dass in der Republik die erste kleine Wiedervereinigung bekannter wird und auch, dass die Saarfrage niemals eine historische Petitesse, sondern von internationalem Gewicht war: 1919, 1935, 1955. So geht meist unter, dass sich 1955 demokratisch Vorbildliches und europäisch Großes vollzog. Obwohl es keinerlei vertragliche Abmachungen gab, entließ Frankreich die Saarländer aus seiner Einflusssphäre - freiwillig. So kurios es klingt, hat diese Abtrennung von Frankreich eine intensivere Annäherung ermöglicht. Im deutschen Verbund lernte man das eigene "Savoir vivre" hochzuschätzen. Nachdem die französische "Demokratur" vorbei war, wurden die Saarländer frankophil(er) als je zuvor. Dass sich das Land heute als europäischer Brückenkopf versteht, das hat seine Wurzeln im 23. Oktober 1955.

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