Ein Chip fürs Leben

Meinung · Der Aufschrei gegen Ursula von der Leyens geplante Bildungs-Chipkarte führt in die Irre. Die Forderung, man solle stattdessen Bargeld an die Eltern auszahlen, verkennt, dass die Höhe der Hartz-IV-Sätze für Kinder ohnehin neu berechnet wird. Aber das Verfassungsgericht hatte in seinem Hartz-IV-Urteil zusätzlich einen Ausgleich für die Benachteiligung armer Kinder im Bildungswesen verlangt

Der Aufschrei gegen Ursula von der Leyens geplante Bildungs-Chipkarte führt in die Irre. Die Forderung, man solle stattdessen Bargeld an die Eltern auszahlen, verkennt, dass die Höhe der Hartz-IV-Sätze für Kinder ohnehin neu berechnet wird. Aber das Verfassungsgericht hatte in seinem Hartz-IV-Urteil zusätzlich einen Ausgleich für die Benachteiligung armer Kinder im Bildungswesen verlangt. Das kann als Sachleistung geschehen, wird doch Bildung hierzulande grundsätzlich nicht als Finanzzuweisung an die Eltern angeboten. Da braucht man gar nicht erst das Misstrauen zu bemühen, dass Geldzuwendungen, die für die Nachhilfe gedacht sind, zweckentfremdet werden könnten. Angeblich wird mit den Gutscheinen die Erziehungshoheit der Eltern verletzt, angeblich auch die Länderzuständigkeit für die Bildung ausgehöhlt. Die eine Kritik ist eine ideologische Überhöhung, die andere ein üblicher föderaler Verhinderungsversuch. In Wirklichkeit hat das Gutscheinsystem das Potenzial, eines der größten Probleme des deutschen Bildungssystems lösen zu helfen: die besonders krasse Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Schicht. Sie ist eine Folge der Tatsache, dass der Staat in Deutschland den Eltern allzu viel überlässt (und auch zumutet), weil er die Bildungsausgaben gering halten will. Und sie ist eine Folge der Unfähigkeit von Landesministern, Schulstrukturen zu hinterfragen, obwohl sie permanent hohe Abbrecherzahlen, schlechte Pisa-Ergebnisse, mangelnde Integration und niedrige Abiturientenquoten produzieren. Wenn es der Ministerin gelänge, die Gutscheine nicht nur für Hartz-IV-Kinder zu finanzieren, sondern für alle mit niedrigen Einkommen, dann hätte sie ein neues System neben der Schule kreiert, die in ihrer jetzigen Verfassung nur für Kinder mit funktionierenden Elternhäusern gut ist. Dann kümmern sich künftig Arbeitsämter, Kommunen, Vereine und Schulen um die Förderung und Integration sozial schwacher Kinder und wenden dafür viel mehr auf als jetzt. Von Nachhilfe über die Teilnahme an Klassenfahrten bis hin zu Freizeitaktivitäten. Angela Merkels Versprechen einer Bildungsrepublik Deutschland wäre etwas mehr mit Inhalt gefüllt. Sicher wäre es besser, die Schule selbst würde all dies leisten. Doch das ist nicht in Sicht. Sicher ist auch die diskriminierungsfreie Umsetzung der Chipkarten-Lösung nicht einfach. Aber wer jetzt in Bund und Ländern dauernd auf die Schwierigkeiten hinweist, statt zu ihrer Lösung beizutragen, will im Grunde nur, dass das alte System nicht verändert wird - und dass unten bleibt, wer unten ist.

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