Ein Angriff auf die Würde

Heute kommt der amerikanische Präsident zum Staatsbesuch nach Deutschland. Nach Lage der Dinge dürfte der Empfang für Barack Obama nicht mehr ganz so herzlich ausfallen wie im Juli 2008, als ihm vor der Siegessäule in Berlin 200 000 Fans frenetisch zujubelten.

Damals verkörperte Obama den charismatischen Weltverbesserer, der zu großen Hoffnungen Anlass bot. Heute wissen wir, dass er die Erwartungen enttäuscht hat.

Obamas Entzauberung erreichte mit der Enthüllung über die weltweite Bespitzelung der Bürger durch den Geheimdienst NSA ("Prism"-Projekt) ihren Höhepunkt. Der Schock über diesen Angriff auf die Würde des Menschen ist deshalb groß, weil man dem Demokraten Obama das Ausblenden jeglicher rechtsstaatlicher Grundsätze nicht zugetraut hätte. Heute lässt er sogar zu, dass mutige "Whistleblower" wie Edward Snowden kriminalisiert werden. Dabei hat der junge Mann nur "verraten", was jeder Schlapphut auf der Welt eh wusste: Die Vereinigten Hightech-Staaten von Amerika scannen den Datenverkehr des gesamten Globus ab. Auch Russen, Chinesen, Briten, Israelis und Deutsche versuchen dies, wenn auch wohl (noch) nicht so professionell und umfassend wie die USA.

Das eigentliche Problem von "Prism" (und damit von Obama) ist die Philosophie, die dahinter steht: Wir nehmen uns das Recht heraus, alles zu dürfen. Auch, gegen Grundwerte zu verstoßen. Und erstens geht euch das nichts an; zweitens lassen wir uns nicht kontrollieren. Ein vordemokratisches Verständnis, das mit einer freien und zivilen Bürgergesellschaft nichts zu tun hat. Bislang blieb es totalitären Systemen vorbehalten, mit dem Argument der "nationalen Sicherheit" die Freiheitsrechte der Bürger einzuschränken. Nun haben sich auch die USA auf dieses Niveau begeben. Doch wie will Washington, wie will der gesamte Westen Glaubwürdigkeit erlangen, wie der "Achse des Bösen" den moralischen Zeigefinger weisen, wenn man selbst im rechtsfreien Raum agiert?

Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Kennedy-Besuch ist Obama in Berlin. Er trifft auf eine nunmehr souveräne Nation, die sich längst vom "Big Brother" aus Amerika emanzipiert hat. Es gilt als sicher, dass wegweisende Beschlüsse nicht zum Programm gehören und kein spektakulärer Spruch die Menschen elektrisieren wird. Leider wird auch die Reaktion auf Obamas Rede vor dem Brandenburger Tor verhalten sein, denn seine 4000 Zuhörer sind handverlesen. Der normale Bürger indes wäre gut beraten, sich die allumfassende Beschnüffelung durch Staatsorgane nicht gefallen zu lassen und dies auch deutlich zum Ausdruck zu bringen. Im übrigen könnte die "Prism"-Idee bald überholt sein. Denn wer schlau ist (oder etwas zu verheimlichen hat), kommuniziert künftig wieder analog.

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