Draußen vor der Tür

Meinung · Ein Mensch, der nie im Leben angekommen ist und zum Mörder wurde, ist nach Verbüßung seiner Haft wieder auf freiem Fuß. Nach Jahrzehnten des Eingesperrtseins ist er nun draußen vor der Tür des Gefängnisses, das die Gesellschaft vor ihm geschützt hat - und ihn vor sich selbst

Ein Mensch, der nie im Leben angekommen ist und zum Mörder wurde, ist nach Verbüßung seiner Haft wieder auf freiem Fuß. Nach Jahrzehnten des Eingesperrtseins ist er nun draußen vor der Tür des Gefängnisses, das die Gesellschaft vor ihm geschützt hat - und ihn vor sich selbst. Bloß, wie soll es jetzt weitergehen? Wie geht man mit einem Täter um, der "therapeutischen Maßnahmen nicht zugänglich" ist und nach Einschätzung von Experten eine latente Gefahr für die Bevölkerung darstellt? Der Fall des Schwerkriminellen Walter H. ist ein Beispiel für das Versagen der Politik, die in zaudernder Ratlosigkeit vor einem - zugegeben schwer lösbaren - Problem verharrte. Nun ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung eines als "gemeingefährlich" eingestuften Verbrechers in der Tat fragwürdig, weil sie eben rückwirkend entschieden wurde und nach Ansicht des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs deshalb "gegen die Menschenrechte" verstößt. Man mag diese enge Auslegung des Rechts beklagen und über die Weltfremdheit der Gutmenschen von Straßburg schimpfen. Doch der Rechtsstaat ist ein maximales Gut, dessen Regeln nicht von Angst gesteuert oder gar willkürlich gedehnt werden dürfen. Die Bundesregierung hatte monatelang Zeit, auf das Straßburger Urteil zu reagieren. Aber erst jetzt will das Justizministerium einen neuen Gesetzentwurf vorlegen.Niemand weiß, ob Walter H. wieder rückfällig wird. Die Behörden sind in dieser Frage auf das Urteil von Sachverständigen angewiesen, die sich gemäß der menschlichen Natur auch irren können. Aber sie werden, schon aus Selbstschutz, eher vorsich-tig sein in ihrer Bewertung und in dubio pro securitate entscheiden - im Zweifel für die Sicherheit. Der gesunde Menschenverstand sagt, dass ein Wiederholungstäter, der seine Impulse und Triebe offenbar nicht steuern kann, entweder psychisch oder physisch krank ist. Nach einer fachlichen Expertise wäre die Einweisung in eine entsprechende Anstalt eine Möglichkeit, um die Interessen der Allgemeinheit zu wahren. Der Staat darf keine Rache üben, und er hat auch die Grundrechte von Verurteilten zu respektieren. Aber es gehört zu seinen vornehmsten Aufgaben, dem absoluten Anspruch der Bürger auf Schutz vor potenziellen Gewalttätern gerecht zu werden. Für Altfälle wie Walter H., die nach geltendem Recht zu behandeln sind, muss schnellstmöglich eine Lösung gefunden werden. Das Risiko des Attentismus, des hoffenden Abwartens, verbietet sich ebenso wie eine Dauerbelastung der nun zur Observierung gezwungenen Polizei. Die hat es nicht verdient, ausbaden zu müssen, was die unschlüssige Politik ihr eingebrockt hat.

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