Die Wahl-Lotterie

Meinung · Vor der Wahl glaubten die Hessen, sie hätten zwischen Schwarz-Gelb unter Koch und Rot-Grün unter Ypsilanti zu entscheiden. Am Ende haben sie vielleicht Schwarz-Grün unter Roth gewählt. Was für die Hessen diesmal eine Überraschung war, wird in Deutschland bald Normalität: Man weiß vor der Wahl nie, was mit der eigenen Stimme geschieht

Vor der Wahl glaubten die Hessen, sie hätten zwischen Schwarz-Gelb unter Koch und Rot-Grün unter Ypsilanti zu entscheiden. Am Ende haben sie vielleicht Schwarz-Grün unter Roth gewählt. Was für die Hessen diesmal eine Überraschung war, wird in Deutschland bald Normalität: Man weiß vor der Wahl nie, was mit der eigenen Stimme geschieht. Im Bund ist dies offiziell, seit FDP-Chef Guido Westerwelle die Bindung seiner Partei an die CDU gelockert hat und auch die Grünen ohne Koalitionsaussage in die Bundestagswahl gehen wollen. Befördert wird dies durch die Linke, deren Erstarken "kleine" Zweier-Koalitionen zur Rarität macht.Auch im Saarland werden die Bürger rätseln. Wer hier 2009 FDP wählt, stärkt eine Ampel mit SPD und Grünen, Jamaika mit CDU und Grünen oder Schwarz-Gelb. Ein Wähler, der sicherstellen will, dass die SPD in einer rot-roten Koalition stärkster Partner wird, könnte einer großen Koalition die Stimme gegeben haben, die Peter Müller zum Ministerpräsidenten wählt. Auf welchen Teilen ihres Programms Parteien in Verhandlungen bestehen, weiß zudem keiner. Im Geben und Nehmen von Inhalten und Ämtern verlieren Wahlversprechen ihren Wert. Das Muster der Gespräche von SPD und Union nach der Bundestagswahl 2005 könnte Schule machen. Damals warb die CDU vor der Wahl für eine Mehrwertsteuer-Erhöhung von zwei Prozentpunkten, die SPD wollte null - man einigte sich auf drei. In Deutschland wurden Wahlen bislang zwischen Lagern ausgetragen. Die neue Unübersichtlichkeit mit ihrem Wahl-Lotto ist zunächst ein Verlust und könnte die Wahlbeteiligung senken. Das Mehrheitswahlrecht, das Sitze nur an Wahlkreissieger - also Vertreter großer Parteien gibt -, ist aber keine Antwort. Seine Einführung käme einem Putsch gleich, weil die kleinen Parteien längst fester Teil unseres politischen Systems sind. Es widerspricht auch demokratischem Empfinden, wenn Stimmen für unterlegene Wahlkreiskandidaten unter den Tisch fallen und 30 bis 40 Prozent im Bund eine absolute Parlamentsmehrheit bringen können. Die Entwicklung zum Fünf-Parteien-System mag man bedauern. Sie ist kaum umkehrbar. Man muss sie daher positiv sehen: als Stärkung der repräsentativen Demokratie, da Abgeordnete über die Regierungsbildung entscheiden und für Inhalte parlamentarische Mehrheiten gesucht werden müssen. Die Entwicklung verlangt aber vom Wähler, sich weniger mit dem Profil von Spitzenkandidaten als mit Programmen und Grundüberzeugung von Parteien zu beschäftigen, und bei der Wahl die ihm nahe Stimme im parlamentarischen Konzert zu stärken.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Die "Leipziger Volkszeitung" setzt sich mit dem Parteiwechsel Oswald Metzgers auseinander: Metzger ist nicht mehr das schwarze Schaf der Grünen, er mischt sich gleich unter die Schwarzen. Den Zeitpunkt dafür hat der clevere Baden-Württemberger gut gewählt
Die "Leipziger Volkszeitung" setzt sich mit dem Parteiwechsel Oswald Metzgers auseinander: Metzger ist nicht mehr das schwarze Schaf der Grünen, er mischt sich gleich unter die Schwarzen. Den Zeitpunkt dafür hat der clevere Baden-Württemberger gut gewählt
In unserem Beitrag "Zeitumstellung hat weiter viele Gegner" auf Seite D 7 hieß es gestern, viele hätten Probleme "nach dem einstündigen Zurückstellen der Uhr" im Frühjahr. Richtig ist: nach dem Vorstellen der Uhr im Frühjahr. Der Zeiger springt in der Nac
In unserem Beitrag "Zeitumstellung hat weiter viele Gegner" auf Seite D 7 hieß es gestern, viele hätten Probleme "nach dem einstündigen Zurückstellen der Uhr" im Frühjahr. Richtig ist: nach dem Vorstellen der Uhr im Frühjahr. Der Zeiger springt in der Nac