Die Türkei auf dem Weg zum Ein-Mann-Betrieb

Istanbul · Den größten Saal in Ankara hatte die türkische Regierungspartei AKP gemietet, um ihren Chef Recep Tayyip Erdogan zu feiern. Mit Nationalhymne und großem Pomp ließ sich Erdogan gestern vor mehreren tausend Anhängern zum Präsidentschaftskandidaten küren, eine bunte Video-Jubelschau feierte den 60-Jährigen als Landesvater und Patrioten.

Die aufwändige "Krönungsmesse" sollte sechs Wochen vor der ersten Direktwahl eines türkischen Staatspräsidenten am 10. August die Macht der AKP und Erdogans demonstrieren - und die Gegenkandidaten das Fürchten lehren.

Auch Erdogan selbst ging gleich in die Vollen. In einer einstündigen Rede griff er seine politischen Gegner als Handlanger einer "Vormundschaft" durch die Armee an. Er versprach, den Friedensprozess mit dem Kurden voranzutreiben sowie die Wirtschaft und die EU-Kandidatur der Türkei weiter zu stärken. Er kündigte aber auch an, weiter gegen angebliche parallele Strukturen im Staatsapparat zu kämpfen, die er für Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung verantwortlich macht. Der Wahltag werde ein Wendepunkt sein: "Wir errichten eine neue Türkei ."

Zu dieser neuen Türkei gehört ein De-Facto-Präsidialsystem, das Erdogan einführen will. Als Staatschef muss er zwar als Regierungschef und AKP-Vorsitzender zurücktreten, doch er will weiter die Fäden in der Hand behalten. Laut Medienberichten könnte sich der amtierende Staatschef und Erdogan-Vertraute Abdullah Gül trotz ursprünglicher Dementis bereitfinden, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen. In einem solchen Ämtertausch nach dem Vorbild von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew in Russland würde Gül auch AKP-Vorsitzender.

Erdogan will die Türkei im Ein-Mann-Betrieb führen. Schon jetzt sind Parlament, Justiz und Medien in der Türkei keine Institutionen mehr, die der Regierung auf die Finger schauen und sie notfalls zur Räson bringen können. Und niemand kann Erdogan vorwerfen, er täusche die Wähler: Er sagt ganz offen, was er vorhat. Die Opposition ist zu schwach und zu zerstritten, um ihm etwas entgegensetzen zu können. Die Mehrheit der Türken scheint seine Pläne zu unterstützen. Nach den Umfragen ist Erdogan der haushohe Favorit für die Präsidentschaftswahl und hat gute Chancen, im ersten Wahlgang mit mehr als 50 Prozent der Stimmen gewählt zu werden; wenn nicht, muss er sich am 24. August einer Stichwahl stellen. Die meisten Befragungen sehen Erdogan zwischen 52 und 54 Prozent. Der Kandidat der beiden größten Oppositionsparteien der Türkei , Ekmeleddin Ihsanoglu, kommt auf etwa 40 Prozent, Kurden-Kandidat Demirtas wird bei etwa 7,5 Prozent gehandelt. Der Marsch des Premiers an die Spitze des Staates scheint also kaum noch aufzuhalten.

Formell wäre an dem Ämtertausch-Manöver nichts auszusetzen. Allerdings würde es sicherlich das Misstrauen gegenüber der Türkei in Europa vergrößern. Dieses Misstrauen geht nicht zuletzt auf Erdogans Verhalten zurück. Anders als in der ersten Phase seiner Regierungszeit hat er in den vergangenen Jahren mehr und mehr autoritäre Tendenzen erkennen lassen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er diesen Kurs als Staatspräsident aufgeben wird. Mit Erdogan an der Spitze des Staates wird die Türkei wohl stabil bleiben - demokratischer nicht unbedingt.

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