Die „saubere“ Nation

Die Türkei wird zum 100. Jahrestag des Beginns der Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg mit vielen unangenehmen Fragen konfrontiert. Ankara schimpft über eine angebliche internationale Kampagne, mit der das Land unter Druck gesetzt werde, und blickt nervös auf Ereignisse wie die für heute angekündigte Ansprache von Bundespräsident Joachim Gauck zu diesem Thema.

Doch damit kann die Türkei kritische Fragen nach der Ermordung der Armenier vor hundert Jahren nicht von der Tagesordnung verdrängen. Das ist gut so.

Viele Staaten und viele Menschen auf der Welt sind der Auffassung, dass die Vertreibung der Armenier und die Morde bei Massakern und Todesmärschen den ersten Völkermord der modernen Zeit darstellten. Die Türkei von heute lehnt diese Bezeichnung für die schrecklichen Ereignisse acht Jahre vor der Gründung der modernen Republik nach wie vor ab.

Doch das Wort "Völkermord " allein ist nicht das Problem. Die offizielle türkische Geschichtsschreibung und die Politik sind nach wie vor nicht bereit, der bitteren Wahrheit ins Auge zu sehen, dass die osmanische Reichsregierung im Jahr 1915 beim Umgang mit den Armeniern schwere Schuld auf sich lud. Hunderttausende unschuldige Menschen mussten sterben, weil die osmanische Regierung die Armenier aus Anatolien vertreiben wollte. Mit dieser historischen Schuld muss sich die moderne Türkei befassen. In der türkischen Gesellschaft hat dieser Prozess begonnen. In Büchern und bei Diskussionsveranstaltungen werden die Ereignisse thematisiert. Das hat viel verändert im Land. Zum ersten Mal überhaupt melden sich Armenier zu Wort, die ihre Identität lange Zeit verschwiegen. Der heutige Präsident Reep Tayyip Erdogan gedachte im vergangenen Jahr, damals noch als Regierungschef, erstmals offiziell des Leids der Armenier. Die hartgesottenen türkischen Nationalisten, die lange die Diskussion bestimmten, sind seltener zu hören. Doch eines hat sich nicht geändert. Erdogan und andere Politiker relativieren die Taten der Osmanen-Regierung stets als patriotisch motivierte Entscheidungen zur Rettung des Vaterlandes. Von Versagen, Schuld oder Verbrechen ist keine Rede. Die Türkei sieht sich selbst als "saubere" Nation, in deren Geschichte kein schwarzer Fleck zu finden ist. Diese fehlende Bereitschaft, Schmerzhaftem in der eigenen Vergangenheit ins Gesicht zu sehen, bestimmt weiterhin die Position der offiziellen Türkei. Appelle von außen können diese Haltung kaum verändern. Dazu bedarf es einer Dynamik im Land selbst. Nur eine junge Generation von Türken, die neue Fragen stellt und auf Antworten dringt, kann das Land dazu bringen, das dunkle Kapitel der türkischen Geschichte ehrlich aufzuarbeiten.

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