Die Mär vom klassenlosen Patienten

Berlin · Kurze Wartezeiten für einen Arzttermin und eine Behandlung, die keine Wünsche offen lässt: Davon träumt wohl jeder Patient. Doch nach dem allgemeinen Eindruck erfüllt sich dieser Traum nur, wenn der Kranke privat versichert ist.

Neidvoll blicken deshalb viele Kassenmitglieder auf die Bevorzugten. Nun lockt Daniel Bahr überraschend mit einem Ende der Zwei-Klassen-Medizin. "Ich möchte, dass alle Menschen selbst entscheiden können, wie und wo sie sich versichern wollen", meinte der Gesundheitsminister jetzt in einem Interview. Das heißt im Klartext: Alle Arbeitnehmer könnten sich künftig auch privat versichern, egal wie viel sie verdienen. Jeder darf Erste-Klasse-Patient sein. Der Nachweis für eine Mindesthöhe bei Lohn oder Gehalt würde entfallen, wie überhaupt die starren Grenzen zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung verschwinden würden.

Allerdings ist das zu schön, um wahr zu sein. Denn bei näherer Betrachtung ist die Kassenwelt deutlich komplizierter, als es Bahrs einfache Vision erahnen lässt. Entscheidend ist nämlich, welche Bedingungen für eine freie Wahl herrschen würden. Die gesetzlichen Kassen müssen bisher bekanntlich jeden Arbeitnehmer aufnehmen, egal wie alt und krank er ist. Und sie verlangen einen prozentualen Beitrag vom Lohn, der Geringverdienern also weniger abverlangt als höheren Einkommensschichten. Würde man dieses solidarische System auf die privaten Kassen ausweiten, dann hätten die das Nachsehen. Ein solches Ziel dürfte der FDP-Politiker Bahr jedoch kaum im Sinn haben. Im Gegenteil. Die Liberalen sind mittlerweile die einzige etablierte Partei, die noch uneingeschränkt zur Privatversicherung in ihrer jetzigen Form steht und dieses System noch ausbauen will. Nach Bahrs Logik bliebe es also bei ihrem Geschäftsmodell der einkommensunabhängigen Beiträge und der Möglichkeit, auch Interessenten abzulehnen, wenn sich deren Vorerkrankungen als unkalkulierbares Kostenrisiko erweisen.

Was Bahrs Vorschlag unter diesen Voraussetzungen für die Zukunft der Krankenversicherung in Deutschland bedeutet, kann man sich leicht ausmalen. Weil die Privaten vor allem junge und gesunde Menschen mit niedrigen Prämien locken, ginge den gesetzlichen Kassen schnell der Nachwuchs aus. Zurück blieben dort Ältere mit höheren Krankheitsrisiken, was für sie spürbar höhere Beiträge zur Folge hätte. Auf diese Weise würde das gesetzliche Kassensystem ausbluten. Von der Verheißung, dass dann alle gewissermaßen Erste-Klasse-Patienten sind, wäre man aber trotzdem Lichtjahre entfernt. Das zeigt sich in einem scheinbar harmlosen Nebensatz des Zeitungsinterviews: Notwendig sei, dass jeder "die Grundleistung" versichert habe, meinte Bahr. Der jetzige Versicherungsschutz der gesetzlichen Kassen, der bei aller Kritik im Einzelfall das medizinisch Notwendige abdeckt, dürfte damit kaum gemeint sein. Eher geht es um ein abgespecktes Paket. Das aber würde diverse Zusatzversicherungen weit über die heutigen Gepflogenheiten hinaus erfordern. Und die könnten sich viele gar nicht leisten. Der Zwei-Klassen-Medizin wäre damit also erst recht Tür und Tor geöffnet.

So wünschenswert es ist, die Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu überwinden, so falsch ist Bahrs Rezept dafür. Wenn das solidarische System erhalten bleiben soll, dann geht das nur zu den Geschäftsbedingungen der gesetzlichen Kassen.

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