Die Kanzlerin lässt sich nicht in ihre Seele blicken

Berlin · Sie führt in diesen Tagen lange Hintergrundgespräche mit Journalisten, sie absolviert zahlreiche Wahlkampfauftritte, und sie geht ins Fernsehen. Eine Stunde lang stand Angela Merkel am Sonntagabend einer ziemlich hartnäckig fragenden Anne Will Rede und Antwort.

Merkels Stimmung? Von Verunsicherung keine Spur, schon gar nicht von Rücktrittsgedanken. "Ich sehe nicht, was das hervorrufen könnte", sagt Merkel in der Sendung. Und auf Wills Frage zu Obergrenzen ("Warum krampfen Sie da so rum?") antwortet sie: "Ich krampfe nicht rum, sondern halte Obergrenzen für falsch."

So erleben sie derzeit viele bei ihren internen wie öffentlichen Auftritten: Sicher, entspannt, entschlossen. Falls sie verärgert sein sollte, etwa über CSU-Chef Horst Seehofer oder Ungarns Viktor Orban, versteckt sie es gut. Merkel hat sich eine Argumentation zurechtgelegt, um mit den scharfen Angriffen zurechtzukommen: Kritiker wie Horst Seehofer fänden ihren Ansatz, den Flüchtlingsstrom am Ursprung zu stoppen, ja eigentlich richtig. "Sie glauben nur nicht so richtig daran, dass er Erfolg hat." Aber man dürfe sich nicht permanent mit Zweifeln herumschlagen. Oder gar mit einem Alternativplan B. Obergrenzen würden die von ihr angestrebte Lösung - den Flüchtlingsstrom an der EU-Außengrenze und in der Türkei zu stoppen - sogar regelrecht torpedieren. Wenn alle in Europa sich abschotteten, könne man mit Ankara nicht mehr verhandeln.

Die Bilder von der mazedonisch-griechischen Grenze scheinen ihr zudem Recht zu geben, dass Zäune das Problem nur für ein paar Wochen aufhalten. Die hohen Umfragewerte für die AfD und die schlechten der Union sprechen gegen sie. Aber, so Merkel, auch das Problem AfD wird sich erledigen, wenn ihr Kurs erfolgreich ist. Allzu viele Rücksichten auf die Landtagswahlkämpfe nimmt Merkel offenbar ohnehin nicht. Wenn es beim EU-Gipfel vor den Wahlen kein richtiges Ergebnis gebe, werde man sich eben danach erneut sehen, sagt sie zu Will.

Was sind ihre Motive? Die Kanzlerin lässt sich nicht in ihre Seele blicken. Einige sagen, sie lehne Abschottung aus ihrer DDR-Erfahrung ab, andere verweisen auf ihr Pastoren-Elternhaus. Bei Anne Will macht die Kanzlerin die Humanität gegenüber Flüchtlingen geltend - und Europa. Man müsse als Kontinent einen gemeinsamen Weg finden und dürfe Griechenland nicht allein lassen. Die Flüchtlingskrise sei Europas "Rendezvous mit der Globalisierung".

Merkel sieht einen Teil des Weges schon geschafft. Das EU-Türkei-Abkommen steht seit November und verpflichtet Ankara dazu, die Flüchtlinge zurückzuhalten und besser zu versorgen. Europa zahlt dafür drei Milliarden Euro. Für die Verbesserung der Situation in den Lagern in den Nachbarstaaten Syriens hat eine Geberkonferenz neun Milliarden Euro erbracht. Die Grenzsicherung in der Ägäis wird durch die EU-Agentur Frontex und einen Nato-Seeeinsatz verstärkt, in Griechenland werden Hotspots zur Erstregistrierung eingerichtet. Das alles läuft halbwegs. Woran es vor allem hakt, ist das Versprechen, nach voller Installation dieser "Rückhalte"-Systeme Kontingente von Flüchtlingen direkt nach Europa zu lassen, um die Türkei und Griechenland zu entlasten. Das verweigern derzeit die meisten EU-Staaten. Merkel appelliert aber an die Geduld der Deutschen. "Ich brauche Zeit".

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