Die Islamisten haben ihre „Heiligkeit“ verloren

Kairo · „Die Glut des Arabischen Frühlings hat sich in einen bitteren Herbst gewandelt“, klagt die renommierte ägyptische Zeitung „Al Ahram“, während die Region mit düsteren Befürchtungen das vierte Jahr dieser historischen Epoche beginnt. Im politischen und sozialen Chaos schwingt der Ruf der Massen nach einem Ende der Despotie, nach Achtung der persönlichen Würde und sozialer Gerechtigkeit weiter mit.

Ungeachtet aller Schrecken hat der Prozess des "arabischen Erwachens" eine entscheidende Veränderung bewirkt: Die Barriere der Furcht ist durchstoßen. Selbst dort, wo despotische Kräfte immer noch - oder wieder - die Zügel der Macht halten, werden sich ihre Untertanen nicht mehr knebeln und einschüchtern lassen.

Doch die Opfer sind groß. In Syrien tobt ein selbstzerstörerischer Krieg, den nach derzeitigem Stand keine Seite gewinnen kann. Mindestens 130 000 Menschen mussten ihn mit ihrem Leben bezahlen, elf Millionen flüchteten. Aber auch dort, wo die Bevölkerung wie in Ägypten, Tunesien, Libyen oder dem Jemen ihre Despoten abschüttelte, erfüllte sich weder die Hoffnung auf Freiheit und Mitbestimmung noch die auf ein sozial besseres Leben. Im Gegenteil. Der Lebensstandard sackte dramatisch ab. Keiner der neuen Führer hat begonnen, die sozialen Probleme anzupacken.

Die angesehene Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden macht drei zentrale Faktoren aus, die die arabischen Rebellionen beeinflussen: Veränderungen der islamischen Bewegungen; interne Kämpfe zwischen islamistischen Strömungen und die Entwicklung säkularer Kräfte. Dort, wo Diktatoren stürzten, gelang islamischen Bewegungen nach langer Opposition der Aufstieg zur einflussreichsten Kraft: in Tunesien, Libyen, im Jemen und in Ägypten bis zum Sturz des ersten frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. Auch im Jahr vier des Arabischen Frühlings wird der politische Islam die Entwicklungen entscheidend beeinflussen. Seine Rolle aber hat sich gewandelt.

Die Islamisten hätten in der arabischen Welt "ihre Heiligkeit verloren", resümiert die Carnegie-Stiftung. Junge und pragmatische, ja sogar konservative und religiöse Bevölkerungsschichten beurteilen die neuen politischen Kräfte nach ihrer Leistung, nicht nach ihrer Ideologie. Das musste Mursi erleben, damit hat auch die herrschende islamistische "Ennahda" in Tunesien zu kämpfen. Sie könnte bei der dieses Jahr geplanten Parlamentswahl die Macht an eine säkulare Koalition verlieren - es wäre der Präzedenzfall in der arabischen Welt, dass eine islamistische Partei durch Wählerwillen die Macht verliert. Auch interne Richtungskämpfe zwischen Moslembrüdern und den radikaleren Salafisten werden 2014 die Entwicklungen beeinflussen. Am bedrohlichsten erscheint jedoch die Eskalation der Spannungen zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam, die durch geopolitische Interessenskonflikte regionaler Mächte - Saudi-Arabien und Iran - gesteuert wird.

Die säkularen Gruppen wiederum, einst stärkste Antriebskräfte des Aufbegehrens, haben bitter enttäuscht durch interne Rivalitäten und die Unfähigkeit, sich zu einer starken Bewegung zu einen, die bedingungslos an demokratischen Grundsätzen festhält. Nach drei Jahren des "Arabischen Erwachens" müssen die Revolutionäre friedliche Wege zur nationalen Verständigung und in die Moderne finden. Erste Schritte sind getan, gefolgt von bitteren Rückschlägen. Doch die Weltgeschichte lehrt für solch radikale Veränderungen Geduld und Zeit.

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