Die Gretchen-Frage

Meinung · Ein Traum von Demokratie: Die Bundesbürger stimmen über Europa ab. Sie sagen ihre Meinung über das wichtigste Projekt der Geschichte auf dem alten Kontinent. Ja zu Europa, mit allen Konsequenzen. Oder: Nein zu noch mehr Europa. Kein Geringerer als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat das brisante Thema Volksabstimmung befeuert

Ein Traum von Demokratie: Die Bundesbürger stimmen über Europa ab. Sie sagen ihre Meinung über das wichtigste Projekt der Geschichte auf dem alten Kontinent. Ja zu Europa, mit allen Konsequenzen. Oder: Nein zu noch mehr Europa.Kein Geringerer als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat das brisante Thema Volksabstimmung befeuert. Und keine Geringere als Bundeskanzlerin Angela Merkel hat hurtig versucht, die prompt aufgeflammte Diskussion wieder auszutreten. Beide haben gute Argumente.

Soll das Volk also darüber abstimmen, ob wir mehr oder weniger EU brauchen? Welch eine Frage, könnte man sagen. Selbstverständlich soll, nein muss der Souverän befragt werden. Wäre ja noch schöner, wenn sich ein paar Polit-Oligarchen anmaßen würden, an den Menschen vorbei die Richtung zu bestimmen. Doch schon die Frage verdeutlicht das Dilemma, denn sie beinhaltet Skepsis. Skepsis bezüglich der Reife des Volkes: Wie soll der einzelne Bürger die knäuelige EU-Gemengelage verstehen und analysieren können, wenn selbst viele Abgeordnete davor kapitulieren? Zahlreiche Volksvertreter können mit den Kürzeln der Rettungsschirme EFSF und ESM nichts anfangen, sie kannten bei einer Befragung nicht mal die Höhe der Kredite und Bürgschaften, die sie selbst bewilligten. Und welcher Bürger weiß schon, was nun wirklich drinsteckt im Fiskalpakt?

Ja gewiss, Europa ist schwierig. Und furchtbar kompliziert. Dennoch meint Schäuble, es führe kein Weg daran vorbei, der EU mehr Rechte und Kompetenzen zu übertragen. Das würde im Umkehrschluss aber heißen, der Bundestag hätte immer weniger zu sagen, weil die Entscheidungen zunehmend in Brüssel getroffen würden. Die Gretchen-Frage: Wollen wir das wirklich? Aus der deutschen Meta-Ebene betrachtet, muss die Antwort "Nein" heißen. Denn so edel und vernünftig die Motive der EU-Befürworter auch sein mögen: Die europäische Lebenswirklichkeit sieht anders aus. Die Bürger verstehen nur noch "Euro-Krise" oder Bahnhof. Weil Politiker, die sie nicht gewählt haben, in einer Sprache, die sie nicht beherrschen, über Sachverhalte entscheiden, die sie nicht nachvollziehen können. Daraus entsteht Ohnmacht, ein Gefühl der Hilflosigkeit, das sich in Verweigerung ausdrückt.

Wenn die Debatte über die Volksabstimmung richtig losgeht, geraten die Europa-Freunde sofort in die Defensive. Kaum vorstellbar, dass die Deutschen ihr Grundgesetz, das als moralisches Gerüst die innere Verfasstheit der Nation stützt, auch nur in Teilen veräußern würden. Das weiß auch Merkel, deshalb bremst sie Schäubles Vorstoß ab. Doch der Minister wird sich durchsetzen, es ist eine Frage der Zeit. Denn wer mehr Europa will, braucht dafür Legitimation - durch eine Volksabstimmung.

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