Leitartikel Die Frage der Abspaltung schwebt über den Wahlen

St. Andrews · Wer dieser Tage in Schottland jemanden auf die bevorstehende Parlamentswahl anspricht, bekommt meist eine lange Antwort. Von den Angaben zu ihren Wahlabsichten gehen die Befragten nahtlos über zur Frage, ob sie eine weitere Abstimmung über eine Unabhängigkeit ihrer Heimat von Großbritannien befürworten.

2014 hatten die Wähler diese abgelehnt.

Diesmal taucht die Frage zwar nicht auf dem Stimmzettel auf. Trotzdem steht sie ganz oben für viele Wähler, sowohl in der malerischen Universitätsstadt St. Andrews als auch andernorts. Denn die Entscheidung Großbritanniens zum Austritt aus der EU hat die politische Landschaft auf den Kopf gestellt. Alte Brüche zwischen England, Schottland, Wales und Nordirland treten wieder offen zu Tage und schwächen die Bindungen des Vereinigten Königreichs. In Nordirland herrscht Angst, dass die jahrzehntelange Gewalt zwischen Katholiken und Protestanten wieder aufflammen könnte.

Diese Themen und der Brexit selbst schwelen bei der Wahl am 12. Dezember unter der Oberfläche. Selten war ein Urnengang so eng verknüpft mit der Zukunft des Königreichs. Dessen Struktur wird wegen ihrer vertrauten Symbole oft als selbstverständlich angesehen: der Queen, die seit mehr als 60 Jahren amtiert, das jahrhundertealte Parlament. Dennoch ist das Land labil zu einer Zeit, in der es einen radikalen Umbau seiner Beziehungen zum übrigen Europa in die Wege leitet. Die Wähler in Schottland hatten sich im Brexit-Referendum 2016 mit überwältigender Mehrheit für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Der Landesteil wird nun also gegen seinen Willen durch den Brexit-Prozess gezogen. Der Wahlbezirk North East Fife um St. Andrews war bei der jüngsten Parlamentswahl 2017 der am stärksten umkämpfte. Die Schottische Nationalpartei (SNP) lag nur mit zwei Stimmen vor den Liberaldemokraten. Und nun ringen die Rivalen wieder miteinander. Während sie sich in ihrem Widerstand gegen den Brexit einig sind, liegen sie über Kreuz in der Frage, ob Schottland noch einmal über seine Unabhängigkeit abstimmen sollte.

Die Scottish Nationalists befürworten das. Ihrer Meinung nach sollte sich das wirtschaftsstarke und ressourcenreiche Schottland angesichts des unheilvollen Brexits als unabhängiges Land seinen eigenen Weg suchen. Die Liberalen hingegen wollen Teil Großbritanniens bleiben, selbst wenn London wie geplant zum 31. Januar aus der EU aussteigt.

Der ehemalige Boxer Chris Honess hat keinen Zweifel, wo er steht: Er wird gegen die Scottish Nationalists stimmen – in der Hoffnung, die Gespräche über ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum zu beenden. Er befürchtet, dass die gesamte europäische Verteidigungsstruktur bedroht wäre, wenn Schottland sich abspalten würde. „Ich bin zu 100 Prozent gegen den die Auflösung des Vereinigten Königreichs“, sagt der 69-jährige Honess. „Ich glaube, wir sind sehr gut darin, uns zu beschweren, tatsächlich funktioniert das Vereinigte Königreich sehr, sehr gut.“ Ein Zerfall würde seiner Ansicht nach die Nato schwächen.

Für den Fall, dass bei der bevorstehenden Wahl keine Partei auf eine absolute Mehrheit kommt, hat SNP-Chefin Nicola Sturgeon klare Bedingungen gestellt. Jede Partei, die in einer Koalitionsregierung ihre Unterstützung wolle, müsse einem weiteren Unabhängigkeitsreferendum zustimmen – und dessen Ergebnis akzeptieren, sagte sie.

Der Politologe John Curtice von der Universität von Strathclyde sieht in Schottland jetzt einen engen Zusammenhang zwischen der Debatte über eine Unabhängigkeit und dem Brexit. Die Wahlergebnisse in North East Fife und vielen anderen schottischen Wahlbezirken seien extrem schwer vorherzusagen.

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