Die dezente Vier-Sterne-Nation

Berlin · Wenn Higuain die Unglücks-Rückgabe von Toni Kroos besser verwertet hätte, wäre das Spiel wahrscheinlich anders gelaufen; die deutsche Nationalmannschaft hätte nur schwer Wege gefunden, gegen das argentinische Abwehrbollwerk einen Rückstand wieder aufzuholen. Eine Niederlage wäre eine große Enttäuschung gewesen für die Deutschen, aber für das Selbstbewusstsein der Nation letztlich keine Katastrophe.

Man hätte über das ewige Talent Kroos gemosert und Jogi Löw als ewigen Zweiten und Dritten verspottet.

Umgekehrt löst der knappe Erfolg nun auch keinen nationalen Überschwang aus. Eine siegestrunkene Nacht und eine Feier am Brandenburger Tor heute müssen reichen. In der Bundespressekonferenz fragte am Montag eine südamerikanische Journalistin ganz ernsthaft, ob der 13. Juli jetzt Nationalfeiertag werde. Die Sprecherin von Angela Merkel antwortete ebenso ernsthaft, nein, denn das wäre mit einem Produktionsausfall verbunden. Daher seien alle an diesem Morgen an die Arbeit zurückgekehrt, wenn auch natürlich mit sehr großer Freude. So sind die Deutschen - geworden. Fleißig, ernsthaft und dosiert fröhlich. Stärkste Wirtschaftsnation Europas und Fußball-Weltmeister, aber trotzdem nicht auftrumpfend. In Hotel-Kategorien gesprochen: eine Viersterne-Nation. "First Class", nicht Luxus, eher dezent. Man muss daran erinnern, wie das gekommen ist. Es gab zwischen 1994 und 2002 eine Rumpel-Ära im Fußball . Und es gab zur gleichen Zeit Stillstand in der Politik und eine wirtschaftliche Krise mit hoher Arbeitslosigkeit. In beiden Bereichen herrschte Fantasielosigkeit.

2004 wurde in beiden ein riskanter Neustart gewagt. In der Politik mit den Agenda-Reformen, im Fußball mit einer Verjüngung des Kaders und einer Hinwendung zum Offensivfußball. Deutschland verfügt offenbar über die Fähigkeit, sich Problemen zu stellen, jedenfalls, wenn die Not groß genug ist. Dann gibt es eine kollektive Reformbereitschaft: erst die Leistung, dann das Vergnügen. Das ist keine Nation in der Hängematte, sondern ein Korporatismus der aufgekrempelten Ärmel. Der ist zwar nicht konfliktfrei, aber er funktioniert. Besser offenbar als in vielen anderen Ländern.

Das Kabinen-Foto der beiden Sieger dieser Nacht, der sportlichen wie der politischen, zeigt noch etwas anderes: die große Integrationsleistung, die in Deutschland in den letzten 25 Jahren erbracht worden ist, und die die aktuelle Stärke der Nation, hier wie dort, mitbegründet. Die obersten Staatsrepräsentanten Merkel und Gauck beide Ostdeutsche, ebenso wie Spielmacher Kroos. Die Migrantenkinder Özil, Khedira, Boateng, Podolski, Klose, Mustafi. Nicht das möglichst laute Singen der Nationalhymne ist das Erfolgsrezept, sondern Teamgeist.

Angela Merkel hat häufig daran erinnert, dass die anderen Nationen auch nicht schlafen, und dass das eigene Land schnell zurückfallen kann, wenn es nicht beständig an sich arbeitet. Frankreich zum Beispiel, das zu Anfang des Jahrtausends wirtschaftlich wie fußballerisch ganz oben war, als Deutschland noch schlief, hat das in den letzten Jahren erlebt. Es wird die große Aufgabe in Deutschland sein, die derzeitige Spannung zu halten, auch dann, wenn der aktuelle Jubel längst vergessen ist. Im Fußball , in der Politik und in der gesamten Gesellschaft.

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