Die Charme-Offensive aus Washington

Brüssel. Die Nato schöpft Hoffnung. Gestern sind Jahre der Depression zu Ende gegangen. Zum ersten Mal spürt man im Nordatlantischen Bündnis wieder so etwas wie Aufwind. Wo bislang Konfrontation gelehrt wurde, ist plötzlich von Dialog die Rede. Jahrelang hatten die USA die Allianz mit ihrer Politik des Säbelrasselns in tiefe Zerstrittenheit getrieben

Brüssel. Die Nato schöpft Hoffnung. Gestern sind Jahre der Depression zu Ende gegangen. Zum ersten Mal spürt man im Nordatlantischen Bündnis wieder so etwas wie Aufwind. Wo bislang Konfrontation gelehrt wurde, ist plötzlich von Dialog die Rede. Jahrelang hatten die USA die Allianz mit ihrer Politik des Säbelrasselns in tiefe Zerstrittenheit getrieben. Jetzt plötzlich entpuppen sie sich als Helfer, der auch den Weg aus der Sackgasse heraus weist. Dabei geht es nicht nur um die Wiederbelebung des ohnehin nicht sonderlich gewichtigen Nato-Russland-Rates, sondern um eine viel weiter reichende Kurskorrektur. Außenministerin Hillary Clinton setzt gegenüber Moskau auf das Machbare, um das Trennende zu überwinden. Natürlich bleibt sie hart in der Frage einer Erweiterung der Allianz - der Ukraine und Georgien will man die Türe offenhalten. Aber Clinton sagt das so, dass zu spüren ist: Auch in Washington hat man gemerkt, dass man dem georgischen Präsidenten Saakaschwili nicht länger über den Weg traut. In Afghanistan ziehen ohnehin alle an einem Strang, weil Probleme wie Drogenhandel, Terrorismus, Ausbildung von Extremisten über die Grenzen schwappen. Die Stabilisierung des Landes ist ohne russische Hilfe kaum möglich: Die afghanische Armee verfügt über russisches Gerät, da braucht man Helfer aus Moskau. Und gegenüber dem Westen hat die neue Obama-Regierung ihre Positionen bereits aufgeweicht: Niemand geht davon aus, dass es im Bündnis zum großen Krach um mehr Soldaten für den Hindukusch kommt. Washington will mehr Aufbauhilfe, mehr Geld für die unterbezahlte Kabuler Polizei, mehr zivile Hilfskräfte - und rennt damit beim Bündnis offene Türen ein. Die derzeitige Charme-Offensive aus Washington sollte sicherlich nicht als Aufweichung von Grundpositionen missverstanden werden. Hillary Clinton hat in Brüssel keine neue Welt versprochen, aber mit einem einzigen Satz den Europäern signalisiert, dass man bei allen Konflikten nunmehr endlich gleich denkt: "Diplomatie wird die Vorhut unserer Außenpolitik sein." Das ist die Abkehr vom "Prinzip Bush". Der frühere US-Präsident hatte die Nato mit seinem Druck, sich am Irak-Krieg zu beteiligen, in die Knie gezwungen, er hatte das Bündnis mit seinen Drohungen gegen Teheran abgeschreckt und in der Georgien-Krise nicht hart, sondern nur blauäugig hantiert. Von schweren außenpolitischen Fehlern im Zusammenhang mit der Raketenabwehr ganz zu schweigen. Nun aber tritt Washington anders auf und versetzt die Nato damit in die Lage, den vielleicht wichtigsten Schritt ihrer 60-jährigen Geschichte zu tun. Die bis heute ausstehende Definition ihrer Beziehungen zu Russland kann beginnen, nicht ohne oder gegen, sondern mit den Vereinigten Staaten. Sollte das tatsächlich gelingen, könnte eine internationale Koalition entstehen, die machtvoll in die Krisen-Intervention des Nahen Ostens, Afrikas und auch des Balkan einsteigen würde. Ob es wirklich sinnvoll wäre, diese Perspektive für Erweiterungsspekulationen um zwei völlig unreife Staaten aufs Spiel zu setzen, darf bezweifelt werden. Seit gestern haben alle eine neue Chance bekommen: die Nato, Moskau und die USA.

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