Britische Labour auf Kurssuche Die Brexit-Geister lässt Labour in der Flasche

Brighton Lange galt der Altlinke Jeremy Corbyn bei vielen als unwählbar, doch nicht erst seit der vorgezogenen Wahl im Juni ist der Labour-Chef der Superstar der Jungen. Es ist fast ein Kult entstanden um den 68-Jährigen, der beim Labour-Parteitag in Brighton wie ein Messias gefeiert wurde. Seine Fans stimmten regelmäßig Corbyn-Gesänge im Stil der Band White Stripes und ihres Hits „Seven Nation Army“ an. Bei seiner Rede gestern flippte der Saal fast aus.

Beobachter staunten über den Personenkult um den Sozialisten, der angesichts der Umfragen meinte, Labour sei „an der Schwelle zur Macht“, und Premierministerin Theresa May indirekt zu einer weiteren Neuwahl aufrief. Während der viertägigen Veranstaltung versammelten sich derweil an der Promenade, über die stets der typische Geruch von Fish‘n‘Chips weht, regelmäßig Demonstranten und marschierten gegen den Brexit. Sie fordern, dass die seit den vorgezogenen Neuwahlen erstarkte Opposition Farbe bekennt und sich auf die Seite der EU-Austritts-Gegner schlägt – entweder um die Scheidung zu stoppen oder zumindest die von May offerierte Version eines harten Brexits zu entschärfen.

Doch Labour ist tief gespalten in der EU-Frage. Um die Harmonie nicht zu trüben, beschloss die Parteiführung denn auch, in diesen Tagen keine Abstimmung über das emotionale Thema zuzulassen. Zwar fanden leidenschaftliche Debatten unter den Delegierten statt. Und auch Corbyn sagte gestern, man strebe eine „neue und progressive“ Beziehung mit Europa an sowie eine Vereinbarung, die sich an den Bedürfnissen von Arbeitnehmern und Wirtschaft orientiere. Nur Labour könne das zerrissene Land einen – „für eine Zukunft jenseits des Brexit“. Doch ein Votum über eine gemeinsame Linie wurde abgelehnt. Man arbeite an einem Konsens, redete Schatten-Finanzminister John McDonnell die Lage schön. Etliche Schwergewichte der Sozialdemokraten, darunter Londons Bürgermeister Sadiq Khan, forderten, im nächsten Parteiprogramm das Versprechen zu einem erneuten EU-Referendum festzuschreiben. Diese pro-europäischen Kräfte von Labour wollen am Ende der Verhandlungen die Briten darüber entscheiden lassen, ob sie doch lieber in der EU bleiben wollen. Andere verlangen den Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion. Der lebenslange EU-Skeptiker Corbyn jedoch, der bis heute dafür kritisiert wird, sich beim Referendum nur halbherzig für einen Verbleib eingesetzt zu haben, windet sich, gestärkt von der Unterstützung aus dem ultralinken Lager und Brexit-Anhängern im Parlament. Unangenehmen Diskussionen um das beherrschende Thema weicht er aus. Das Problem aber liegt tiefer: In etlichen Labour-Hochburgen stimmten die Menschen mehrheitlich für den Austritt aus der Union. Also wird abgewartet.

Es war ein Labour-Jahrestreffen,  wie es Großbritannien noch nicht erlebt hat und unterschied sich grundlegend von den vergangenen zwei Parteitagen, bei denen man sich in der Führungsfrage entzweite. Am Ende hieß der Sieger stets Jeremy Corbyn, und nachdem der kauzige Vorsitzende Labour bei der vorgezogenen Neuwahl im Juni zu einem beachtlichen Erfolg geführt und die Tories unter May in eine Minderheitsregierung gedrängt hat, ist die Kritik an ihm verstummt. Dabei ist Labour so weit nach links gerückt wie lange nicht und präsentierte sich trotzdem vereint. „Für die Vielen, nicht die Wenigen“, lautete das Motto. Aber unter der harmonischen Oberfläche brodelt es. Labour kämpft ebenso stark mit den Brexit-Geistern wie die Konservativen. Nur wurden sie zumindest in Brighton vorerst nicht aus der Flasche gelassen.

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