Der Sieg gegen den IS bleibt ein ferner Traum

Kairo · Spärliche Berichte über unfassbaren Terror dringen an die Weltöffentlichkeit, ein Jahr nachdem der "Islamische Staat" Mossul binnen weniger Stunden unter seine Kontrolle gebracht hatte. Die jüngsten Zeugnisse der Schreckensherrschaft, die der selbsternannte "Kalif" Abu Bakr al-Bagdadi errichtet hat, stammen von geheimen, von der BBC verbreiteten Videoaufnahmen aus Iraks zweitgrößter Stadt.

Von einem Leben in permanenter Angst vor brutaler Strafe wegen Verstößen gegen die extreme Interpretation des Islamischen Rechts ist die Rede. Die Häuser ethnischer und religiöser Minderheiten wurden "konfisziert". Den Gefängnissen des IS Entkommene berichten von unvorstellbaren Gräueltaten. Das Leben in der einst von Toleranz geprägten Stadt hat sich radikal gewandelt. Viele Schulen sind geschlossen, es fehlt an Treibstoff, Müllhaufen bedecken die Straßen. Zunehmend eifrig baut der IS in Erwartung einer Offensive durch die Regierungstruppen einen Verteidigungsring um die Stadt.

Mit dem Fall von Mossul begann ein rasanter Siegeszug des IS im Nord-Irak, der Hunderttausende in die Flucht trieb und die Kurdenstadt Erbil ebenso bedrohte wie die Hauptstadt Bagdad. Fassungslos beobachteten die USA, wie die von ihnen mit 25 Milliarden Dollar aufgebauten irakischen Streitkräfte kampflos vor den Terroristen flüchteten.

Ein Jahr später steht der Irak mit 2,9 Millionen Flüchtlingen vor einer humanitären Katastrophe und der IS breitet seine Fangarme gnadenlos aus. Dabei hätte die von den USA gebildete Koalition aus 20 Staaten, die seit rund neun Monaten den IS durch Luftschläge zu stoppen sucht, gute Voraussetzung für einen militärischen Erfolg. Der Feind besitzt keine Luftwaffe und keine nennenswerte Luftabwehr, zugleich kann sich die Allianz auf zahlreiche Akteure auf dem Boden stützen - die Regierungstruppen , die kurdischen Peschmerga und diverse pro-iranische Schiitenmilizen. Dennoch erzielte die Koalition nur kleine Siege. Ihr Haupterfolg ist nicht die Befreiung von Dörfern und Städten, sondern die Abwehr der Bedrohung wichtiger neuer Eroberungen, allen voran Erbils und Bagdads, die heute sicher erscheinen.

Obwohl der IS manches besetzte Gebiet wieder räumen musste und Tausende Kämpfer verlor, ist er bis heute in der Lage, immer neue Fronten zu eröffnen. Niemand spricht mehr von einem baldigen Zusammenbruch. Militär-experten führen den Erfolg des IS auf dessen Überlegenheit im Bereich der Aufklärung sowie auf Überraschungsaktionen oft kleiner, höchst brutaler Einheiten zurück. Ein wichtiger Grund für den anhaltenden Erfolg ist auch die Fähigkeit der Miliz, immer neue Kämpfer zu rekrutieren.

Iraks Premier Haider al-Abadi sieht die Hauptschuld der Katastrophe für sein Land in der Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft. Bis vor kurzem seien sechs von zehn IS-Kämpfern Iraker gewesen, nun habe sich die Relation zugunsten von Ausländern verschoben. Das sei "ein Versagen der ganzen Welt".

Experten sind sich einig, dass der Luftkrieg ohne intensiven Einsatz effizienter Bodentruppen scheitern muss. Die Regierungstruppen sind aber erschöpft, demotiviert und nach unzähligen Niederlagen zutiefst frustriert. Eine Nationalarmee, die fähig ist, Territorium zurückzuerobern und auch zu halten, ist für die meisten Fachleute ein "ferner Traum". Deshalb auch spricht der ehemalige US-Botschafter im Irak, Ryan Crocker, offen von seiner Sorge, dass die USA den Krieg gegen den IS verlieren könnten. Die Gewalt werde noch viel schlimmer, bevor sich die Situation irgendwann bessere.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort