Der quälende Abschied vom Hindukusch

Kabul. "Der Gerechtigkeit ist Genüge getan", verkündete US-Präsident Barack Obama am 2. Mai. Elitesoldaten hatten den Top-Terroristen Osama bin Laden erschossen. Der Tod des Al-Qaida-Chefs war ein symbolischer Sieg des Westens. Seine Ergreifung war erklärtes Ziel, als internationale Truppen vor zehn Jahren in Afghanistan einmarschierten

Kabul. "Der Gerechtigkeit ist Genüge getan", verkündete US-Präsident Barack Obama am 2. Mai. Elitesoldaten hatten den Top-Terroristen Osama bin Laden erschossen. Der Tod des Al-Qaida-Chefs war ein symbolischer Sieg des Westens. Seine Ergreifung war erklärtes Ziel, als internationale Truppen vor zehn Jahren in Afghanistan einmarschierten.Darüber hinaus gab der Fortgang des Konflikts am Hindukusch in diesem Jahr wenig Grund zu Optimismus: Seit Anfang 2011 starben mehr als 500 ausländische Soldaten im Kampf gegen die Taliban. Zudem verübten die radikal-islamischen Kämpfer spektakuläre Anschläge; unter anderen schossen sie einen US-Hubschrauber mit 30 Insassen ab. Auch erreichte die Zahl getöteter Zivilisten einen neuen Höchststand: Allein im ersten Halbjahr kamen 1462 Männer, Frauen und Kinder ums Leben. Der Großteil von ihnen starb durch Sprengsätze der Taliban.

Sicher ist, dass der Militäreinsatz von rund 50 Nationen in Afghanistan seinem Ende zugeht. Bis Ende 2014 will der Westen seine Kampftruppen abziehen. Deshalb laufen die Vorbereitungen für die Machtübergabe an afghanische Sicherheitskräfte auf Hochtouren: Die Nato will 350 000 Soldaten und Polizisten trainieren. Experten sind aber pessimistisch, dass Präsident Hamid Karsai und seine Streitkräfte schon bald in der Lage sein werden, das Land zu kontrollieren. Wenn dies nicht gelingt, dürften die Taliban leichtes Spiel haben, sobald sich die internationale Gemeinschaft zurückgezogen hat.

Wie sehr die Afghanen noch auf westliches Geld und Unterstützung angewiesen sind, zeigen nüchterne Zahlen: Für das Training von Soldaten erhielt Afghanistan 2011 acht Milliarden Euro. Auch nach 2014 werden die Armee-Kosten auf mindestens sechs Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Insgesamt kamen in diesem Jahr mehr als 90 Prozent des 13 Milliarden Euro umfassenden afghanischen Haushaltes von internationalen Geldgebern. Das Land hängt am Tropf. Die Weltbank warnte kürzlich vor einem Kollaps der Wirtschaft, wenn die Nato 2014 abzieht.

Offen ist auch, wie die politische Ordnung nach dem Abzug aussehen wird. Da die Taliban militärisch nicht zu besiegen sind, sollen Verhandlungen die Lösung bringen. Doch die Angelegenheit ist verfahren - bislang ist kein Versuch geglückt, aussichtsreiche Gespräche mit den Aufständischen auf den Weg zu bringen. Selbst Ex-Präsident Burhanuddin Rabbani, der die Verhandlungen führte, hatte kaum mehr Hoffnung auf Frieden verbreitet, bevor er im September von einem Turban-Bomber getötet wurde. Der Mord an Rabbani gehörte zu einer Reihe tödlicher Anschläge auf hohe Regierungs-Mitglieder: Im Juli wurde der einflussreiche Bruder von Präsident Karsai in seinem Haus umgebracht. Auch andere wichtige Verbündete des Präsidenten ließen 2011 ihr Leben. Die Regierung wurde dadurch weiter geschwächt. Die umstrittene Parlamentswahl, um deren Ergebnisse monatelang gestritten wurde, lähmte das politische System zusätzlich.

Im Dezember trafen sich Vertreter aus 85 Staaten in Bonn, um über die Zukunft Afghanistans zu beraten. Zehn Jahre nach der ersten Bonn-Konferenz nach dem Sturz des Taliban-Regimes ging es nicht mehr um klangvolle Ziele wie Demokratie und Menschenrechte - sondern nur noch um Schadensbegrenzung und einen geordneten Rückzug.

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