Der Preis der Würde

Die menschliche Qualität einer Gesellschaft zeigt sich auch darin, wie sie mit ihren älteren, hilfsbedürftigen Bürgern umgeht. So betrachtet ist die vor 20 Jahren eingeführte Pflegeversicherung eine Errungenschaft, die höchstes Lob verdient.

Denn entgegen starken politischen Bestrebungen wurde das Pflegerisiko seinerzeit eben nicht komplett individualisiert, sondern durch eine neue Säule im Sozialversicherungssystem auf breite Schultern verteilt. In der Bevölkerung ist die Akzeptanz der Versicherung nach wie vor riesengroß. Umso erstaunlicher, dass sie relativ schnell selbst zum Pflegefall wurde.

Der Grund dafür ist, dass Regierungen aller Couleur die Pflegeversicherung lange Zeit stiefmütterlich behandelten. Über Jahre hinweg wurden weder Beiträge noch Leistungen angepasst. Die ausschließliche Ausrichtung der Pflegeleistungen auf körperliche Gebrechen führte ebenfalls zu Fehlentwicklungen. Denn Jahr für Jahr erkranken etwa 200 000 Menschen an Demenz, die nichts mit der körperlichen Verfassung der Betroffenen zu tun hat, wohl aber mit einer massiven Einschränkung ihrer Selbständigkeit. Der damalige Gesundheitsminister Philipp Rösler hatte 2011 deshalb sogar zum "Jahr der Pflege" erkoren. Doch es blieb weitgehend bei der Überschrift. Großen Worten folgten allenfalls kleine Taten.

Immerhin: Dieser unhaltbare Zustand könnte nun ernsthaft korrigiert werden. Zu Jahresbeginn wurden die Pflegebeiträge erstmals spürbar angehoben. Das ist politisch sicher unbequem. Es zeugt aber von der Einsicht, dass eine Gesellschaft, die ein Altern in Würde garantieren will, einen angemessenen Preis dafür zahlen muss. Die eigentliche Herausforderung ergibt sich aber aus dem überfälligen Umbau der drei herkömmlichen Pflegestufen zu fünf so genannten Pflegegraden, um die Grenzen zwischen geistigen und körperlichen Handicaps für den Versicherungsanspruch endgültig aufzulösen. Hier steht Gesundheitsminister Hermann Gröhe im Wort, nach den jahrelangen wissenschaftlichen Vorarbeiten endlich in dieser Wahlperiode Nägel mit Köpfen zu machen.

Und selbst dann ist der Reformbedarf noch nicht erschöpft. Schließlich kam die Pflegeversicherung vor zwei Jahrzehnten auch deshalb ins Gesetzbuch, damit Betroffenen der Gang zum Sozialamt erspart bleibt. Nach anfänglicher Entspannung steht dieser Anspruch nun wieder zunehmend in Frage. Obendrein muss auch der Pflegeberuf deutlich attraktiver werden, um der wachsenden Zahl der Pflegebedürftigen gerecht werden zu können.

Viel Arbeit also auch für künftige Regierungen, soll die jüngste Säule des deutschen Sozialstaats nicht brüchig werden. Denn besonders für die Pflegeversicherung gilt: Nach der Reform ist vor der Reform.

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