Der Kandidat der Deutschen

Meinung · Als John F. Kennedy 1963 vor dem Rathaus Schöneberg sein "Ich bin ein Berliner" ausrief, erfüllte er eine tiefe Sehnsucht der Deutschen. Die Sehnsucht einer sich verlassen fühlenden Stadt nach der Solidarität einer starken Macht, die Sehnsucht nach einer positiven Wendung in einer von Block-Konfrontation geprägten Welt

Als John F. Kennedy 1963 vor dem Rathaus Schöneberg sein "Ich bin ein Berliner" ausrief, erfüllte er eine tiefe Sehnsucht der Deutschen. Die Sehnsucht einer sich verlassen fühlenden Stadt nach der Solidarität einer starken Macht, die Sehnsucht nach einer positiven Wendung in einer von Block-Konfrontation geprägten Welt. Gestern lockte ein Wahlkampfredner aus den USA rund 200000 Menschen in den Berliner Tiergarten. Kein anderer als Barack Obama könnte das derzeit schaffen. Allenfalls der Papst. Die Menschen suchen einen Heilsbringer. Auf Obama lasten ähnlich große Projektionen wie auf Kennedy, denn die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Und in den Augen vieler waren die USA in der Bush-Ära ein Teil Problems geworden mit ihrer Aufrüstung, ihrer unseriösen Finanzpolitik, ihrer Energieverschwendung, ihrem Vorgehen im Irak und dem Konkurrenzgehabe gegenüber China. Das Denken in Gut und Böse, die Unterteilung in Schurken und Freunde kann, das spüren die Menschen, keine Lösung bringen. Barack Obama ist die Chiffre dafür, dass die USA auch anders könnten, dass also die ganze Welt anders könnte, und er sagt: "Yes, we can." Aber in dem medial gehörig angefeuerten deutschen Überschwang für einen Mann, der noch nicht einmal offiziell Präsidentschaftskandidat ist, geschweige den Präsident, liegt eine gehörige Portion Irrationalität. Obama verkörpert die Hoffnung auf eine Rückkehr der gestaltenden Kraft der Politik in Zeiten der Globalisierung, und von der sprach er gestern auch. Doch Obama wird - wenn er denn zum Präsidenten gewählt wird - amerikanischer Präsident sein, allein den Interessen seiner Nation verpflichtet. Er wird nicht Welt-Präsident. Das Einzige, was er realistisch versprechen kann, ist, dass sich die USA wieder in die Verantwortungsgemeinschaft mit den anderen demokratischen Staaten begeben werden. Im Gegenzug aber wird eine solche Entwicklung von den Europäern mehr Engagement erfordern und auch Opfer. Obama hat sie klar eingefordert. Besonders von den Deutschen, das wollte er mit der Wahl Berlins als Schauplatz seiner einzigen öffentlichen Rede in Europa ja wohl ausdrücken. "Keine Nation kann die Herausforderungen allein bewältigen", sagte Obama und wurde dafür beklatscht. Aber man kann sich, wenn man gemeinsame globale Verantwortung ernst nimmt, nicht nur die politisch korrekten Rosinen heraussuchen und den Anti-Terrorkampf vergessen. Zugespitzt gesagt, könnten deutsche Kampfeinsätze auch im Süden Afghanistans die Konsequenz des Berliner Beifalls sein. Ob das jedem bewusst ist, der da gestern gejubelt hat?

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