Der Fehler liegt im System

Vor der zweiten türkischen Parlamentswahl in diesem Jahr an diesem Sonntag steht ein Ergebnis schon fest: Die Wahl wird dem Land nicht jene Stabilität bescheren können, die angesichts der Erschütterungen durch den Krieg beim Nachbarn Syrien und der schwieriger werdenden Wirtschaftslage nötig wäre.

Selbst bei einem Sieg der Regierungspartei AKP und einer erneuten Alleinherrschaft der Partei bleibt es bei einem Ungleichgewicht im Zentrum der Macht, das mit einer Wahl nicht aus der Welt zu schaffen ist. Dieser Fehler im türkischen System liegt in der Konkurrenz von zwei direkt vom Volk gewählten Institutionen ohne genaue Abgrenzung der jeweiligen Befugnisse durch die Verfassung.

Die Türkei, als parlamentarische Demokratie angelegt, hat seit dem vergangenen Jahr einen direkt gewählten Präsidenten. Der ehrgeizige Recep Tayyip Erdogan beruft sich bei seinen ständigen Einmischungen in die Tagespolitik auf dieses Mandat des Volkes als Staatschef. Erdogans Verhalten ist aber nicht die Wurzel des Problems, sondern macht den zugrunde liegenden Webfehler lediglich ganz besonders deutlich. Bis zur Präsidentenwahl des vergangenen Jahres waren die Aufgaben klar verteilt: Der damals noch vom Parlament gewählte Präsident bildete zwar eine Kontrollinstanz, blieb insgesamt aber politisch passiv. Seit dem vergangenen Jahr ist das anders. Nun hat die Türkei einen politisch starken Präsidenten mit relativ bescheidenen Vollmachten. Das kann nicht funktionieren. Erdogans Vorschlag zur Lösung des Problems liegt in der Einführung eines Präsidialsystems, in dem der direkt gewählte Staatschef, ähnlich wie in den USA oder in Frankreich, alle Fäden in der Hand hält. In Amerika jedoch wird die Macht des Präsidenten durch den Kongress und die weitreichende Selbstbestimmung der Bundesstaaten gebremst - in Erdogans Vorstellung fehlt dieses Gegengewicht. Wenn sich Erdogan nun mit seinem Plan durchsetzt, ist es nach den heute bestehenden Kräfteverhältnissen fast ausgeschlossen, dass die Türkei jemals einen linken oder säkularistischen Präsidenten erhält. Die politische Richtung des Landes so auf Jahre hinaus festzuschreiben, ist Erdogans strategisches Ziel.

Noch ist nicht absehbar, ob Erdogan bekommt, was er will. Sollte die AKP am Sonntag bei dem Versuch scheitern, erneut eine eigene Mehrheit im Parlament für sich zu gewinnen, dürften die Pläne für einen Umbau des Staates erst einmal zurückgestellt werden, weil die potenziellen Koalitionspartner der AKP das Projekt ablehnen. Erdogan kann auch nicht ewig neu wählen lassen, bis ihm das Ergebnis gefällt - das würde die AKP zerreißen. Doch auch bei einer erneuten Niederlage für die AKP bei der Wahl bleibt Erdogan ein starker Präsident. Die politischen Reibereien in Ankara werden weitergehen, stabile Verhältnisse wird es zumindest vorerst nicht geben.

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