Leitartikel Warum der Brexit kein Desaster werden darf

Unaufhörlich rückt der Bre­xit näher. Der ursprüngliche Zeitplan, bis zum EU-Gipfel im Oktober mit einem Vertragsentwurf fertig zu sein, ist nicht mehr zu halten. In Brüssel geht man bereits von einem Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs im November aus.

Der Brexit darf kein Desaster werden
Foto: SZ/Robby Lorenz

Doch selbst diese Perspektive wird inzwischen nur noch von Optimisten vertreten. Briten und Europäer kommen sich nicht nur nicht näher, sie treten auf der Stelle. Dass beide Seiten inzwischen Szenarien einer „No Deal“-Katastrophe an die Wand malen, sagt alles. Schuld daran sind wohl beide Parteien.

Tatsächlich ist die britische Hoffnung, die geschlossene Front der 27 bisherigen Familienmitglieder aufbrechen zu können, gescheitert. Brüssel aalt sich fast schon siegessicher in dieser Einigkeit, die selten genug ist. Dabei hat die Kluft viel mit gegenseitigen Missverständnissen zu tun – vielleicht auch mit einem Mangel an Sensibilität. Als Londons Premierministerin Theresa May vor der Sommerpause ihren Plan einer Zollunion mit der Gemeinschaft aus dem Hut zauberte, lieferte sie zwar einen lange geforderten konkreten Vorschlag. Brüssel hingegen erkannte sofort, dass dieses Papier nichts anderes war als der Versuch, die Vorteile der Mitgliedschaft zu erhalten, ohne die damit verbundenen Pflichten wie der Freizügigkeit zu akzeptieren.

Fatal daran blieb, dass London damit die Geschäftsgrundlage änderte: Fortan konnten die Briten sich als diejenigen inszenieren, die einen Vertrag wollen, während die Europäer angeblich keinen Deal zulassen. Dass EU-Chefunterhändler Michel Barnier gleichzeitig von einem „Abkommen, wie die EU es mit keinem anderen Partner hat“, schwärmte, aber Details ausließ, ändert wenig an der Stimmungslage. Für beide sitzen die Schuldigen auf der anderen Seite des Tisches. Nun gilt eine solche Verhandlungsstrategie in der Diplomatie als üblich: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Alle wissen, dass Zugeständnisse nötig sind. Allerdings dürfte Europa in der besseren Position sein.

Denn auch wenn es große ökonomische Folgen auf beiden Seiten des Kanals geben wird, täte sich die Union der 27 doch leichter, die Konsequenzen abzufedern. Das kann kein Trost sein – und schon gar keine Lösung. Die wird es aber nicht geben, wenn sich die EU wie eine Siegermacht aufführt, die die Bedingungen diktiert und dabei von Rachegedanken nicht völlig frei ist. Europa kann und darf nicht so tun, als könne man den Abschied eines Landes, das 15 Prozent zur Wirtschaftsleistung der Union beigetragen hat, mit einem Achselzucken verschmerzen.

Wenn am Tag eins nach dem Bre­xit der Warenverkehr tatsächlich zum Erliegen käme, weil alle bisherigen Lizenzen und Importbestimmungen nicht mehr gelten, lässt sich das nicht allein dem Vereinigten Königreich in die Schuhe schieben. Sollte dieser Fall eintreten, hätte auch die EU-Kommission versagt. Wenn Barnier wirklich ein Freihandelsabkommen wie mit Kanada vorschwebt, dann sollte er die Verhandlungen nicht nur offen darauf ausrichten, sondern sie auch mit dem gleichen Engagement wie mit Ottawa führen. „No Deal“ darf keine Variante sein.

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