Den ungleichen Partnern fehlt das verbindende Projekt

Stuttgart. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat vor Wochen schon um verlängerte Schonfrist gebeten. Angesichts des fundamentalen politischen Wechsels in Baden-Württemberg möge die Öffentlichkeit mit Grün-Rot Geduld haben

Stuttgart. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat vor Wochen schon um verlängerte Schonfrist gebeten. Angesichts des fundamentalen politischen Wechsels in Baden-Württemberg möge die Öffentlichkeit mit Grün-Rot Geduld haben. Eine selbst ernannte Bürgerregierung machte sich vor 100 Tagen auf den Weg, das Land zu reformieren: Der Bürger bekommt mehr Mitsprache, die verhornte repräsentative Demokratie soll zusammengebunden werden mit des Volkes Einmischung. Das Steuergeld soll nicht verschwendet und die Wirtschaft auf nachhaltige Zukunftsfelder ausgerichtet werden. Und die Schulen sollten nicht weniger als das Versprechen einlösen, jedem Kind, gleich welcher Herkunft, alle Chancen auf einen Bildungserfolg zu geben. Es wurde ein verheißungsvolles Bild gezeichnet zu Beginn dieser grün-roten Amtszeit.Nun mühen sich die Akteure, diesem gerecht zu werden. Gewiss: Der Ton ist ein etwas anderer. Man hört weniger gestanzte Sätze und, vor allem, kein Basta! Kretschmann stellt sich Bürgerversammlungen, er predigt in Kirchen. Nils Schmid von der SPD gehört der Generation "neue Väter" an, die auch mal einen halben Tag für die Kinder zu Hause bleiben. Die Regierung wirkt insgesamt sympathisch. Aus den Startlöchern aber kam sie in diesen ersten Monaten nicht.

Ursächlich für den verbremsten Start ist das Bahnprojekt Stuttgart 21. Grün-Rot ist ein fragiles Zweckbündnis, beileibe keine Liebesverbindung, welcher PR-Experte dieses Etikett auch immer erfunden haben mag. Zudem ist diese Koalition eine der zwei Geschwindigkeiten: Die Grünen würden gern manches Projekt wie den Ausbau der Ganztagsschulen flugs anpacken, um Stuttgart 21 etwas vergessen zu machen. Die SPD will dieses kostspielige Vorhaben möglichst schieben, um später im Wahlkampf punkten zu können. Anderes, was bereits angepackt wurde, besitzt nur geringe Signalwirkung. Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung etwa wird nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung als relevant wahrgenommen. Ebenso die Streichung der Studiengebühren. Obwohl dies ein von beiden Seiten getragenes Thema ist, hat es, anders als zum Beispiel in NRW, kaum Strahlkraft.

Am schwersten wiegt aber, dass sich Grün-Rot bereits auf den ersten Metern angreifbar machte. 180 Stellen an den Spitzen von Ministerien zu schaffen, ist selbst für einen fundamentalen Umbau zu üppig. Wer sich bei finanzpolitischen Grundüberzeugungen stets auf der moralisch besseren Seite wähnt, büßt dann umso mehr Glaubwürdigkeit ein. Die Folge ist fatal: Grün-Rot hat bereits Mühe, sein Kernthema Nachhaltigkeit seriös darzustellen. Auf anderen Feldern herrscht Sprachgewirr: Kretschmann hat "Sonne im Herzen", sein SPD-Vize "Benzin im Blut". Der eine will den Kombibahnhof prüfen, der andere hat ihn brüsk verworfen. Sich derart kindisch zu bekriegen, kann nicht nur ein Anfängerfehler sein. Es fehlt dieser Regierung trotz aller Aufbruchstimmung und einiger Schnittmengen ein großes, verbindendes Projekt. Die Ablösung der alten Regierung kann auf Dauer keine gemeinsame Identität stiften. Auch nicht der besonnene Kretschmann, der es zur Kultfigur brachte. Bildung müsste viel weiter oben auf der Agenda zu finden sein. Auch Energiepolitik. Doch Stuttgart 21 sperrt die ungleichen Partner wie rivalisierende Tiere in einen Raubtierkäfig.

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