Das Web als Wahlplakat

Meinung · Das digitale Rauschen der Parteien im Superwahljahr 2009 ist überwältigend: kaum ein Spitzenkandidat, der nicht twittert, bloggt oder in sozialen Netzwerken wie Wer-kennt-wen oder Facebook vertreten ist. Zeigten sich die Internet-Aktivitäten der Parteien 2005 noch verhalten, überraschen die Wahlkampfzentralen in diesem Jahr

Das digitale Rauschen der Parteien im Superwahljahr 2009 ist überwältigend: kaum ein Spitzenkandidat, der nicht twittert, bloggt oder in sozialen Netzwerken wie Wer-kennt-wen oder Facebook vertreten ist. Zeigten sich die Internet-Aktivitäten der Parteien 2005 noch verhalten, überraschen die Wahlkampfzentralen in diesem Jahr. Dass selbst die Kanzlerin im Jugendnetzwerk Studi-VZ mit ihren Anhängern "gruschelt" (Kurzform für "grüßen und kuscheln"), hätte wohl niemand vermutet. Doch seit April ist sie dort in bester Gesellschaft anderer Spitzenkandidaten vertreten. Aus strategischer Sicht macht das Sinn, denn allein bei Deutschlands größter Netzwerk-Gruppe tummeln sich nach Angaben der Plattform-Betreiber 10,4 Millionen Wahlberechtigte sowie rund 70 Prozent aller Erst- und Jungwähler. Wie man Stimmen im Internet fängt, hat US-Präsident Barack Obama im vergangenen Jahr vorgemacht. Über eine eigens eingerichtete Plattform vermittelte er seinen Anhängern das gute Gefühl, selbst zu Wahlkämpfern zu werden. Mittels individueller Aufgaben verschaffte er der Basis einzigartige Zugangsmöglichkeiten zur politischen Elite - und traf damit mitten ins Herz der amerikanischen Bevölkerung. Beeindruckt von dieser legendären Kampagne kündigten die Parteien hierzulande einen unerbittlichen Wahlkampf 2.0 an. Bereits im Januar kürte Kajo Wasserhövel, Wahlkampf-Manager der SPD, die Online-Kampagne zum "Herzstück" des Bundestagswahlkampfs. Doch der Klick auf die Tools, Profile und Webseiten der Parteien ist ernüchternd: Zwar nutzen die Spitzenkandidaten sämtliche multimedialen Möglichkeiten vom Video-Podcast über das Netzwerk-Profil bis hin zu mobilen Twitter-Kurznachrichten, um demonstrativ Bürgernähe herzustellen und Botschaften zu übermitteln. Ein echter Wille zum Austausch mit den Wählern ist jedoch nicht zu erkennen. Ein Beispiel dafür ist die Twitter-Debatte über die umstrittenen Internet-Sperren, die während der Live-Übertragung des SPD-Parteitags entbrannte - und schlicht ignoriert wurde. Wenn aber die Parteien ihren potenziellen Wählern nicht das Gefühl geben, dass ihre Meinung in die politische Willensbildung einfließt, dann werden technische Spielereien und innovatives Design zur politischen Farce, die Präsenz im Web zum virtuellen Wahlplakat. Hier verkennen die Wahlkampf-Strategen die große Chance, die das Internet birgt: Kein Medium bietet vergleichbar wirkungsvolle Möglichkeiten, den demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu fördern. Demokratie heißt Teilhabe - daran hat sich seit Aristoteles nichts geändert.

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