Das Thüringer Experiment

Allen Unkenrufen zum Trotz: Bodo Ramelow von der Linkspartei ist in Thüringen zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Der Erfurter Dom steht immer noch, auch die Spree in Berlin fließt deshalb nicht rückwärts.

Nüchtern betrachtet ist der Vorgang nur der vorläufige Abschluss einer längeren politischen Entwicklung, die schon 2002 in einer rot-roten Landesregierung ausgerechnet in Berlin gipfelte. Damals war die Empörung ähnlich groß wie heute über Ramelow. Gleichwohl ist seine Wahl mehr als eine landespolitische Entscheidung. Sie könnte ein Einschnitt sein, der die Republik verändert.

Sicher ist Thüringen nicht einfach eine Blaupause für den Bund. Dort bewegen sich SPD , Linke und Grüne derzeit eher weiter auseinander als aufeinander zu. Ukraine-Konflikt, Russland-Politik und Waffenexporte sind nur ein paar Stichworte dafür. Die Realität lehrt allerdings auch, dass die rot-grünen Träume ausgeträumt sind. Der SPD droht deshalb das Schicksal, auf unabsehbare Zeit zum Juniorpartner in großen Koalitionen verdammt zu sein. Will sie selbst eines Tages wieder den Kanzler stellen, wird sie kaum an der Linkspartei vorbeikommen. Gerade deshalb ist der Thüringer Feldversuch interessant. Gelänge dort ein stabiles Regieren, dann könnte das irgendwann auch auf den Bund ausstrahlen.

Der Union muss darüber angst und bange werden. Denn was nützt der Status der stärksten Partei, wenn er mangels Koalitionspartner nicht zur Entfaltung kommen kann? Die FDP ist weg, die Grünen schwanken zwischen linker Klein-Kraft und liberal-ökologischer Volkspartei. Und die AfD ist (noch) tabu. Die Union lebt aber vom Regieren und nicht wie linke Parteien vom Aushecken irgendwelcher Spiegelstrich-Papiere. Für die Koalition in Berlin ist der rot-rot-grüne Pakt in Erfurt dann auch ein schlechtes Zeichen. Das Misstrauen zwischen Union und SPD wird weiter wachsen.

Und die Linken? Ihr Siegesrausch über die Wahl Ramelows dürfte bald verfliegen. Denn mit seiner pragmatischen Politik wird der gebürtige Niedersachse die Widersprüche in seiner Partei weiter auf die Spitze treiben. Das Erfurter Regierungsprogramm ist ja alles andere als ein Dokument revolutionärer Umtriebe. Sogar zur "schwarzen Null" hat sich die Linke darin bekannt. Der Konflikt zwischen den vornehmlich im Osten beheimateten Realos, die in der bundesdeutschen Gesellschaft ankommen wollen, und den radikal-linken Fundamentalisten im Westen, die genau das Gegenteil predigen, kann dadurch nur an Fahrt gewinnen. Zumal man jetzt in Erfurt nicht mehr sagen kann, es sei nur wenig Linkes durchsetzbar. Der Ausgang dieses Konflikts wird darüber mitentscheiden, ob SPD , Linke und Grüne eines Tages auch im Bund harmonieren können.

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