Das Opfer vom Bosporus

Recep Tayyip Erdogan hat sich bei seinem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin von seiner sanften Seite gezeigt. Es gebe keine Probleme bei der Integration von Türken in Deutschland, sagte der türkische Ministerpräsident.

Der heftige Streit um Erdogans Warnung vor einer "Assimilierung"? Längst erledigt. Höflich bat Erdogan um die Unterstützung der Deutschen bei der EU-Bewerbung Ankaras.

Fast präsidial war Erdogans Auftritt im Kanzleramt, und das sollte er wohl auch sein. Der 59-Jährige läuft sich für eine Präsidentschaftskandidatur im Sommer warm, weshalb das Programm seines Berlin-Besuchs auch eine Rede vor einem türkischen Publikum im Tempodrom umfasste. Die 1,5 Millionen türkischen Staatsbürger in Deutschland sollen bei der Präsidentenwahl erstmals auf deutschem Boden ihre Stimme abgeben können. Gegenüber seinen Landsleuten zeigte Erdogan dabei am Abend sein anderes Gesicht: das des Wahlkämpfers, der die politischen Gegner als vaterlandslose Gesellen beschimpft.

Eine erste wichtige Etappe auf dem Weg ins Präsidentenamt sind die türkischen Kommunalwahlen im März. Die Wahlen seien ein "Test", sagte er. Vor allem wird im März getestet, wie groß Erdogans Chancen bei der Präsidentenwahl sind. Bricht seine Regierungspartei AKP ein, wird wohl nichts aus dem Traum vom Umzug vom Sitz des Regierungschefs in den Präsidentenpalast. Erdogans Deutschland-Reise war also Teil des türkischen Vorwahlkampfes. In Berlin ließ der Ministerpräsident auch einen Blick auf seine Strategie zu: Er präsentiert sich, wie so oft, als Opfer. Und zwar als Opfer einer Verschwörung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der angeblich die Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung ausgeheckt haben soll. Einen "Angriff auf Demokratie und Wirtschaft" seines Landes nennt Erdogan die Ermittlungen gegen vier seiner Minister.

Merkel nahm ihm die Komplott-These offenbar nicht ab. Sie pochte auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz, die seit der Zwangsversetzung vieler Richter und Staatsanwälte als Reaktion auf die Korruptionsvorwürfe in Zweifel steht. Reformen müssten Bestand haben, warnte die Kanzlerin ihren Gast.

Erdogan nahm es hin. Ihm geht es um seine Landsleute in der Bundesrepublik. In seiner Rede vor mehreren Tausend Türken zählte er gestern die Leistungen seiner Regierung in Straßenkilometern und Steigerungsraten des Nationaleinkommens auf. Seine Gegner nannte er Möchtegern-Putschisten, die unter dem Vorwand der Korruptionsermittlungen das Land zum Stillstand bringen wollten. Doch gestern protestierten auch türkische Erdogan-Gegner am Brandenburger Tor: Die türkische Innenpolitik ist für eine Weile zu Gast in der Bundesrepublik.

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