Das Netz muss vergessen lernen

Morgens am Frühstückstisch – der Blick aufs Smartphone zeigt: Heute dauert der Weg zur Arbeit 22 statt zehn Minuten. Die Autobahn ist dicht befahren.

Kaffee austrinken und los. Der kleine elektronische Helfer, zuverlässiger als jeder Verkehrsfunk, heißt "Google Local". Die App ist ungemein praktisch - und doch zeigt sie das grundlegende Problem: Aus dem täglichen Verhalten des Nutzers hat Google Zuhause und Arbeitsstelle gelernt sowie die tägliche Gewohnheit, dorthin zu fahren. Den Service - die zuverlässige Verkehrsprognose - möchte man nicht mehr missen.

Aber was, wenn doch? Was, wenn Google die Spuren des persönlichen Lebens wieder vergessen soll? Bisher galt: Das Netz vergisst nie. Der Europäische Gerichtshofs forderte aber in seinem gestrigen Urteil: Das Netz muss vergessen können! Die Frage ist nur: Wie?

Geklagt hatte ein Spanier. Vor 15 Jahren befand er sich in einer privaten Schieflage. Sein Haus musste zwangsversteigert werden. Heute ist alles wieder gut. Nur Google fördert jedes Mal die schmerzhafte Vergangenheit zutage, wenn jemand den Namen des Spaniers eingibt.

Was nach Straftaten in der "realen Welt" Prinzip ist - die Chance auf Resozialisierung ohne dauerhaften Malus der verbüßten Strafe - schien im Internet bisher unmöglich. Das Urteil trifft Google genauso wie Facebook, Twitter und andere Dienste, die im EU-Raum aktiv sind. Nutzer teilen Inhalte, "liken", kommentieren. Google zeigte sich nach dem Urteil überrascht und erklärte: "Wir benötigen nun Zeit, um die Auswirkungen zu analysieren." Diese Einschätzung ist ehrlich: zum einen, weil nun eine Flut von Löschanträgen auf den Konzern zukommen kann. Zum anderen stellt sich die Frage, wie Google und andere Dienste es verhindern können, Informationen, die im Netz gespeichert sind, immer wieder aufzunehmen und für die Suche bereitzustellen. Wie lernt das Internet, zu vergessen? Die Richter haben den Internet-Konzernen ein mächtiges Arbeitspaket aufgegeben.

Letztlich macht auch die Bequemlichkeit der Nutzer dem Datenschutz einen Strich durch die Rechnung: Das Internet erledigt Dinge für uns; Smartphones sind nützliche Helfer. Anbieter erfahren so Intimes: wo wir uns befinden, mit wem wir kommunizieren, was uns interessiert.

Ohne Zweifel ist das gestrige Urteil ein Sieg für Datenschutz und Privatsphäre. Im Einzelnen mag es hilfreich sein, wie im Fall des klageführenden Spaniers. Wahrscheinlich ist der Urteilsspruch im Alltag aber nicht viel wert, weil wir so viele Daten freiwillig preisgeben, dass die Uhr nicht zurückzudrehen ist - und wir das auch nicht wollen. Oder wäre es eine Lösung, auf eine einsame Insel zu ziehen und ein Buch zu lesen? (Aber bitte nicht im Internet kaufen).

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