Das Boot ist nicht voll

Wird Deutschland ab Januar von Billig-Arbeitern und Armutsflüchtlingen überschwemmt? Mancher zeichnet dieses düstere Szenario, weil am Mittwoch die letzten Job-Schranken für Bulgaren und Rumänen fallen. Doch die EU hat mit ihrer Richtlinie zur Freizügigkeit keineswegs eine Bresche in die nationalen Arbeitsmärkte geschlagen oder eine Art Abonnement auf Sozialleistungen verteilt.

Selbst die spektakulär klingende Ankündigung des britischen Premiers Cameron, Zuwanderern nach ihrer Einreise drei Monate keine Sozialhilfe zu zahlen, steht genau so im Regelwerk der Gemeinschaft. Und auch die Schwarzmalerei deutscher Politiker, die vor dem Untergang des Sozialleistungssystems warnen, geht an der Wirklichkeit vorbei.

Damit werden keineswegs die Probleme mancher Kommunen ignoriert. Aber sie ließen sich lösen, wenn man nur die Möglichkeiten der Richtlinie ausschöpfen und die Freiräume für Integrationsmaßnahmen nutzen würde. Die Geschichte der europäischen Erweiterungspolitik ist dennoch voll von solchen Versuchen, sich abzugrenzen und mit theoretischen Drohgemälden Innenpolitik zu machen. Das ist auch jetzt wieder eines der Motive: Man versucht, den erstarkenden Rechtsextremen in Europa das Wasser abzugraben.

Dabei belegen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, dass die Unternehmen händeringend Arbeitskräfte suchen, nicht nur Akademiker und Facharbeiter. Die Mär vom vollen Boot ist glatter Unsinn. Hinzu kommt, dass die EU-Staaten bei der Erfindung der Freizügigkeit ganze Arbeit geleistet haben. Denn wer hierzulande als Gastarbeiter oder potenziell dauerhafter Arbeitnehmer ins Land kommt, muss den gleichen Lohn und die gleichen Sozialstandards wie die einheimischen Kollegen zugestanden bekommen. Dass dieses Instrument nun nachgebessert werden muss, weil es durchlöchert wurde, ändert nichts an seiner Intention: Es soll verhindern, dass aus EU-Arbeitskräften Billiglöhner werden, die ortsansässigen Arbeitnehmern die Jobs wegnehmen. Wer mit dem Instrumentarium der EU-Gesetze also richtig Politik macht, braucht keine Welle von Zuwanderern zu fürchten.

Er kann, wenn ihm nicht reicht, was Brüssel vorgibt, sogar mit den Mitteln des nationalen Rechtes zusätzliche Hürden errichten oder Lücken schließen. Die EU-Kommission hat dies in einem Bericht zum Sozialmissbrauch deutlich gemacht. Doch der passte nicht in die politische Landschaft derer, die mit der Botschaft von der Abgrenzung Stimmen sammeln wollen. Die Freizügigkeit gehört zu den großen Errungenschaften der EU. Anders kann ein gemeinsamer Markt nicht funktionieren. Deshalb sollte man all jenen nicht glauben, die ein solches Gut zur Disposition stellen wollen.

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