Clinton ist noch nicht durch

Die zweite Chance - es ist ein Konzept, das Amerikaner gern zum Kern ihrer Lebensphilosophie erklären. Wer scheitert und wieder aufsteht, dem sind Sympathie und Respekt garantiert, denn niemand ist hier für alle Zeiten zum Versager gestempelt.

Nur dass die Duelle ums Weiße Haus mit ernüchternder Regelmäßigkeit beweisen, dass vieles, was da geredet wird über zweite Chancen, in der Politik nur eingeschränkt gilt. In Wahlkämpfen schätzt das Land keine Loser. Ob Jimmy Carter oder Bill Clinton , George W. Bush oder Barack Obama : Die meisten, die zuletzt ins Oval Office gewählt wurden, haben es im ersten Anlauf geschafft - strahlende Sieger ohne das Stigma, schon einmal geschlagen worden zu sein.

Mit alledem ist bereits gesagt, dass man vorsichtig sein sollte mit allzu viel Vorschusslorbeer für Hillary Clinton . Ja, sie mag die Favoritin sein, zumindest in den eigenen Reihen. Es ist aber nur eine Momentaufnahme. Schon vor acht Jahren schien es so, als könnte ihr keiner das Wasser reichen. Schon damals sprachen manche von einer Bewerberin, die praktisch gekrönt werden würde, statt sich im harten Marathon der Vorwahlen durchbeißen zu müssen. Bekanntlich kam es anders, und schon deshalb ist eine Prise Skepsis angebracht.

Was 2015 von 2007 unterscheidet: Bei den Demokraten ist im Augenblick kein zweiter Barack Obama in Sicht, kein Senkrechtstarter, der der Gesetzten erfolgreich den Fehdehandschuh hinwerfen könnte. Aber wer weiß - bis in Iowa die erste Vorwahl stattfindet, gehen noch fast neun Monate ins Land. Zeit genug also für einen überraschenden Herausforderer.

Gewiss, man darf nicht unterschätzen, wie viele Wähler dem Durchbruch des Jahres 2008 einen zweiten folgen lassen möchten. Damals der erste Schwarze im Weißen Haus, demnächst die erste Präsidentin: Das Historische wird eine Rolle spielen, es wird gerade Frauen motivieren, für Hillary zu stimmen. Und es wird einige geben, die bereuen, dass sie seinerzeit Obama den Vorzug gaben, einem Jungsenator ohne Management-Erfahrung, in dessen ersten Amtsjahren manches Vorhaben auch deshalb scheiterte, weil er handwerkliches Geschick vermissen ließ.

Erfahrung, Kompetenz und Kompromissfähigkeit, das sind Stärken, die Clinton in die Waagschale wirft. Ihr Pflichtgefühl ist Legende. In vier Jahren als Außenministerin legte sie fast eine Million Flugmeilen zurück, um 112 Länder zu besuchen. Zu ihren Freunden gehören Republikaner wie John McCain ; es dürfte ihr leicht fallen, Brücken ins konservative Lager zu bauen.

Nur sehnen sich die Demokraten eben auch nach einer Kandidatin, die das Herz wärmt. Clinton, die pro Rede angeblich 200 000 Dollar kassiert, hat Mühe, die Sorgen und Nöte der kleinen Leute zu verstehen.

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