China verpasst seine Lehrstunde in Demokratie

Peking · Am Tag 75 scheint alles vorbei zu sein. Die Demonstranten packen ihre Zelte wieder zusammen, Bauarbeiter räumen nach und nach die Barrikaden weg. Mehrere Aktivisten werden abgeführt. Sie wehren sich nicht, lassen sich an Schultern und Füßen packen und wegtragen.

Am Ende soll der Verkehr durch das Regierungsviertel im Stadtteil Central wieder rollen.

Studenten, Professoren, Priester und so manche Abgeordnete hatten hier ausgeharrt und die Verwaltung in Hongkong, viel mehr aber noch die Zentralregierung in Peking herausgefordert. Sie waren für mehr Demokratie auf die Straße gezogen, hatten eine echte Wahl ihres Regierungschefs im Jahr 2017 gefordert. Die Farce, die Peking ihnen aufzwingt - Wahl ja, echte Auswahl aber keineswegs - lehnen sie auch am Tag ihrer Niederlage lautstark ab. Für sie, den harten verbliebenen Kern, ist es nicht vorbei. Für sie hat der Widerstand gegen ein China, das ihre Rechte einengt und ihnen die Macht zur Mitbestimmung nimmt, erst angefangen .

Eine ganze Generation hat sich praktisch über Nacht politisiert in einer Stadt, die so lange Jahre nur auf das Geld, auf das finanzielle Wohlergehen aus war. Politik stand bei vielen hinten an, bis zu jenem Sonntag im September. Die Menschen wehrten sich mit Regenschirmen gegen Tränengas und Schlagstöcke der Staatsmacht. Und sie haben nach und nach schmerzlich verstehen müssen, dass sie als schwacher David nicht gegen den mächtigen Goliath in Peking ankommen. Doch sie bleiben ein Hindernis für Chinas Bestreben, alles unter Kontrolle halten zu wollen.

Peking steht mit seiner Taktik, die Krise auszusitzen, auf den ersten Blick als Gewinner da. Ein beständiger Sieg ist es nicht. Die Forderungen der Jugend, die immer mehr mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, werden nicht von heute auf morgen verschwinden. "Wir werden wiederkommen", steht auf ihren Plakaten, die sie nun unter Zwang abgehängt haben. Das ist wörtlich zu nehmen. Denn Hongkong, anders als Festland-China, gewährt die Freiheit, Unmut auf die Straße zu tragen. Das haben die Proteste bewiesen, die größtenteils friedlich, geradezu brav abliefen.

Hongkong hat eine bunte Zivilgesellschaft - und einen Rechtsstaat, vor dem sich die Kommunistische Partei eigentlich fürchtet. Schon deshalb bemühte sie tausende Zensoren, um ihrem Volk bloß keinen Einblick in die Ereignisse am Perlflussdelta zu gewähren. Zum Teil hat es funktioniert. Peking hat in nächster Zeit keine Proteste à la Hongkong zu befürchten, weil der Nährboden fehlt, um Unmut aufzufangen und zu kanalisieren. Mit dem steigenden Wohlstand in Festland-China aber verstärkt sich auch quer durch das riesige Land der Wunsch nach Teilhabe und Mitbestimmung .

Die Zentralregierung täte also gut daran, in ihrer Hongkong-Politik zum gelebten Pragmatismus zurückzukehren und die Finanzmetropole als Testgelände zu verstehen. Warum nicht einen Kandidaten aus der Opposition zulassen? Es ist kaum anzunehmen, dass er die Wahl gewinnen würde. Wenn doch, wüsste auch er, dass es ohne Zusammenarbeit mit Peking nicht geht. Im kleinen Hongkong könnte Peking ausprobieren, wie es ist, die Bürger zu beteiligen. Es könnte den Umgang mit den letztlich unkontrollierbaren Mechanismen lernen, um sie nach und nach auch in Festland-China zuzulassen. So bliebe die gepriesene Stabilität gewahrt, ohne dass der Zentralregierung ihr ganzes System eines Tages um die Ohren fliegt.

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