Charles Michel Ein Netzwerker als neuer EU-Ratspräsident

Brüssel · Charles Michel hatte Glück. Als die europäischen Staats- und Regierungschefs Mitte des Jahres einen neuen Ratspräsidenten suchten, hatte der belgische Ministerpräsident gerade nichts Besseres vor.

 Charles Michel (links) übernahm gestern von Donald Tusk symbolisch das Glöckchen für die Leitung der EU-Ratssitzungen.

Charles Michel (links) übernahm gestern von Donald Tusk symbolisch das Glöckchen für die Leitung der EU-Ratssitzungen.

Foto: AP/Francisco Seco

Im Dezember 2018 war der 43-jährige Liberale aus der frankophonen Wallonie als Regierungschef zurückgetreten und führte bis zur Wahl im Mai nur noch die Geschäfte. Und da der Sohn des früheren belgischen Außenministers und späteren EU-Kommissars Louis Michel ohnehin keine Chance hatte, sein Regierungsamt noch eine weitere Legislaturperiode fortzuführen, war er eben zur richtigen Zeit am richtigen Platz. Am gestrigen Freitag übernahm der Mann mit der unverwechselbaren Erscheinung Glatze, Vollbart und konturenstarke Brille die Ratspräsidentschaft der Union von Donald Tusk – zunächst für zweieinhalb Jahre. Eine einmalige Verlängerung ist möglich.

„Europa muss aufrechter stehen in der Welt, selbstbewusster, und sich für unsere Sichtweise und unsere Werte stark machen“, sagte er bei seiner Amtsübernahme. Doch was er wirklich erreichen kann, hängt am wenigsten von ihm selbst ab. Als Ratspräsident leitet Michel zwar künftig die EU-Gipfel, bereitet durch Vorabsprachen mit den immer noch 28, ab Ende Januar möglicherweise 27 Staats- und Regierungschefs die Beschlüsse vor. Aber das ist im Kreis der europäischen Alpha-Tiere nicht einfach. Wer jedoch schon einmal als Premierminister im institutionell komplizierten belgischen Staatsgefüge mit seinen drei Sprachen-Gemeinschaften, mit den starken Regionalregierungen und dem fragmentierten Parteiensystem eine Legislaturperiode überlebt hat, bringt alle Fähigkeiten und die Geduld für Kompromisse und den nötigen Ausgleich mit. Zumal Michel die Politik sozusagen von Kindesbeinen an gelernt hat. Mit 14 klebte er Wahlplakate für seinen Vater. Er war gerade mal 18 Jahre, als er ins Regionalparlament einzog. Mit 23 saß er im föderalen Parlament in Brüssel. Als er wallonischer Innenminister wurde, war er 24.

Innenpolitisch blieb Michel allerdings eher unscheinbar. Dass er nach den Anschlägen in der Brüsseler Hauptstadt etliche Fahndungspannen seiner Behörden einräumen musste, hat das Vertrauen der Bürger nicht gestärkt. Dafür gelang es ihm in den vergangenen fünf Jahren, sein europäisches Netzwerk auszubauen. Michel gilt als enger Verbündeter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und seinem luxemburgischen Amtskollegen Xavier Bettel verbindet ihn eine nicht nur politische Freundschaft. Mit der deutschen Kanzlerin versteht er sich ebenfalls gut, wozu  Unternehmungen am Rande von EU-Gipfeln beitrugen: Erst vor kurzem saßen Bettel, Macron, Merkel und Michel am späten Abend nach den Verhandlungen in der Brüsseler Innenstadt bei Bier und Fritten zusammen.

Der Vater von drei Kindern dürfte also kaum in dem Maße anecken wie sein Vorgänger Donald Tusk, dessen Twitter-Kommentare zwar häufig originell, aber nur selten diplomatisch ausfielen. Ähnliches ist von Michel wohl nicht zu erwarten. Beobachter glauben, dass auch dieser Punkt letztlich zu seinen Gunsten gesprochen habe. Die „Neue Zürcher Zeitung“ kommentierte diesen Aspekt seiner Berufung mit den vielsagenden Worten: „Michel dürfte sich kaum zu einem EU-Ratspräsidenten entwickeln, der einer deutschen Kanzlerin oder einem französischen Präsidenten vor der Sonne steht.“

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