Leitartikel Britische Politik schert sich nicht um das Wohl des Volkes

Was sich derzeit im Königreich abspielt, kann nur als Farce bezeichnet werden. Die politische Klasse versagt auf allen Ebenen. Anstatt alle Anstrengungen zu bündeln und für die Herkulesaufgabe Brexit eine Kompromisslösung zu finden, die die gespaltene Bevölkerung befrieden könnte, führen die Abgeordneten ohne Rücksicht auf das Wohl des Volks Diskussionen, die die Stimmung nur weiter aufheizen.

Leitartikel: Britische Politik schert sich nicht um das Wohl des Volkes
Foto: SZ/Robby Lorenz

Ohnehin hört niemand mehr der anderen Seite zu. Ob Europafreunde mit dem Wunsch nach einem zweiten Referendum, Befürworter eines soften Brexit oder EU-skeptische Hardliner – jeder predigt nur noch in der jeweiligen Blase, in der die eigenen Anhänger bestätigt werden. Häufig bestehen die Versprechen und Forderungen keinen Realitätstest, sondern gehören in die Paradieswelt der rosaroten Einhörner. Zugeständnisse gibt es ohnehin nicht, stattdessen nimmt die Wut unter den Politikern wie auch Bürgern zu, wie die chaotischen Szenen diese Woche im und vor dem Parlament gezeigt haben.

 Dabei könnte das Land eigentlich zufrieden über die jüngste Errungenschaft sein. Mit der Entscheidung der Abgeordneten, dass die Regierung innerhalb von drei Sitzungstagen einen Plan B präsentieren muss, hat sich das Parlament die Kontrolle über das Prozedere zurückerobert und damit genau das getan, was Brexit-Unterstützer seit Jahren fordern. Und doch sind es nun sie, die wüten. Es ist eine weitere absurde Episode in einer ohnehin völlig absurden Serie, die seit Jahren in Westminster läuft. 

 Premierministerin Theresa May jedenfalls hat bewiesen, dass sie der Aufgabe, die Brexit-Krise zu überwinden, nicht gewachsen ist. Sie hat es in ihrer Amtszeit nicht nur versäumt, parteiübergreifend wichtige Allianzen zu bilden, um nun die nötige Unterstützung für ihren Deal zu erhalten. Sie hatte auch viel zu lange keinen Plan, obwohl die Uhr längst tickte. Die Regierungschefin genauso wie Minister und Abgeordnete redeten jahrelang durch- statt miteinander. Und ignorierten außerdem allzu leichtfertig, wie die EU funktioniert und zum Schutz der eigenen Interessen agiert.

 Bis heute hat ein Teil der britischen politischen Klasse die EU nicht verstanden. Wirtschaftsbeziehungen spielen für Brüssel eine bedeutende Rolle, gewiss, aber die Integrität des Binnenmarkts sowie der Zusammenhalt der verbleibenden EU-27 übertrumpfen die Handelsinteressen. Leider ist das von Opportunisten wie Ex-Außenminister Boris Johnson gern erzählte Märchen, dass deutsche Autobauer, italienische Prosecco-Produzenten und französische Käsehersteller in die Brexit-Verhandlungen eingreifen und diese zum Vorteil der Briten lenken werden, bei vielen Menschen auf der Insel noch immer nicht ausgeträumt.

Mit dem Beharren auf den jeweils eigenen Positionen spielen die britischen Politiker ein riskantes Spiel. Warum sollte sich die EU in den nächsten Wochen weiter auf das Königreich zubewegen? Für die Briten, die stets eine Sonderbehandlung in Brüssel genossen haben, werden die Zugeständnisse ohnehin nie ausreichend sein. Das zeigen die Debatten dieser Tage.

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