Brexit ist für die EU auch Chance zur Selbstkritik

Das war kein schwarzer Tag für Europa. Der britische Wunsch nach Austritt aus der EU, der Brüssel gestern per Bote offiziell erreichte, wird die Union vielleicht erschüttern, aber nicht beschädigen. Immer mehr setzt sich nicht nur in Brüssel, sondern vor allem in den Regierungshauptstädten die Erkenntnis durch, dass die nun beginnenden Verhandlungen zwar quälend werden, aber auch immer wieder bewusst machen dürften, wie viel die Gemeinschaft in den Jahren erreicht hat.

Die Verkürzung der Mitgliedschaft auf hohe Abgaben für den EU-Haushalt oder auf lästig empfundene Freiheiten bei der Einwanderung ist zu oberflächlich. Das Vereinigte Königreich, das sich aus einer populistischen Stimmung heraus zum Brexit hat überreden lassen, wird dies zu spüren bekommen - auch ohne dass die EU nun die Daumenschrauben anzieht, um ein abschreckendes Beispiel zu inszenieren. Derartige Machtspiele wären völlig unsinnig und auch unnötig, weil sich die Mehrheit der Briten von einer EU abgewendet hat, die tatsächlich eine Rosskur braucht. Denn während Brüssel sich immer wieder sehr in der Rolle des Mahners für mehr Reformwillen der Mitgliedstaaten gefiel, unterließen es die Staats- und Regierungschefs, die Gemeinschaft selbst fortzuentwickeln, anzupassen und handlungsfähig zu halten. Die Unwirksamkeit der Dubliner Asylregeln für die derzeitige Lage zu erkennen, sich aber dann jahrelang in zwischenstaatlichen Streitritualen zu ergehen, anstatt mit Hochdruck neue Wege zu finden, ist nur ein Beispiel.

Es gibt Indizien dafür, dass die 27 Mitglieder diese Lektion zu verstehen beginnen. Aber sie können kein Ruder herumwerfen, wenn sie sich nicht sicher sind, dass die Menschen zu Hause dabei mitziehen anstatt auf die oberflächlichen Parolen hereinzufallen. Genau das ist in Großbritannien geschehen. Mit welchen Folgen und Konsequenzen, das kann die geschrumpfte Union nun wie im Laborversuch studieren.

Die Therapie gegen die grassierende europäische Schwindsucht besteht aber nicht nur darin, jetzt erst recht auf Zusammenhalt und mehr EU zu drängen. Der Konsens über Europa als Lösung gegen die Probleme der Gegenwart verdunstet nicht einfach nur deswegen, weil das europäische Geflecht zu undurchschaubar wurde, sondern weil es zu wenig bewirkte und in eigenen Verkrustungen erstickte. Die Bürokratie im Binnenmarkt hat bedrückende und unsinnige Ausmaße angenommen. Weniger wäre in vielen Bereichen tatsächlich mehr. Insofern würde man der EU bei den beginnenden Gesprächen mit London, bei denen nicht weniger als 21 000 Gesetze durchforstet und neu vereinbart werden müssen, auch eine Phase der Selbstbesinnung wünschen, um zu erkennen, wo ein Zusammenwirken sinnvoll ist - und wo nicht. Der Ausstieg der Briten kann eine Chance sein, wenn man keine Angst hat, Errungenschaften zu hinterfragen.

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