Analyse Berlin und Moskau stehen vor einer neuen Eiszeit

Moskau · Werden Deutschland und seine Kanzlerin noch die Sonderrolle wahrnehmen, die sie im Verhältnis zu Moskau jahrelang innehatten, fragt Dmitri Trenin, außenpolitischer Analytiker von der Carnegie-Stiftung in Moskau.

Berlin und Moskau stehen vor einer neuen Eiszeit
Foto: picture alliance / dpa/Achim Scheidemann

Anlass war der Giftanschlag auf den Oppositionellen Alexei Nawalny in Russland. Bislang hatte sich Berlin um das Verständnis des Kreml bemüht und wurde auch als Erklärer Russlands von den EU-Partnern akzeptiert. Diese Rolle entfalle nun, so Trenin. Im Umgang mit Berlin empfiehlt er eine Auszeit, um weitere Irritationen zu vermeiden. Fjodor Lukjanow sieht die Abkühlung im deutsch-russischen Verhältnis gelassener. Dem Herausgeber der Zeitschrift Russia in Global Affairs erscheint der Dialog zwischen Russland und dem Westen, in dem Deutschland als Hauptgesprächspartner auftrat, eher „unwahrscheinlich skurril“. Berlins Einfluss entspricht nicht jenem Gewicht, das es als Vermittler russischer Positionen haben müsste.

Der Dialog mit Russland war lange ein Eckpfeiler sozialdemokratischer Ostpolitik gewesen. Auch nach der Wiedervereinigung verlor die ostpolitische Maxime „Wandel durch Annäherung“ in Deutschland nicht an Befürwortern. Doch Russland machte aus dem Anspruch auf ehemalige Teile des Imperiums kein Hehl. 2008 besetzte Moskau Teile Georgiens und erklärte zwei Teilrepubliken zu unabhängigen Staaten. Schon 2007 sorgte Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz für Aufmerksamkeit. Russland werde sich einem US-Diktat nicht beugen, so Putin. 2008 versuchte Außenminister Frank-Walter Steinmeier noch einmal, eine Modernisierungspartnerschaft mit Moskau aufzulegen. Vergebens: Berlin war aus russischer Sicht zum Gegner geworden, zog daraus aber keine Schlüsse.

2014 folgten die Annexion der Krim und die Besetzung des ukrainischen Donbass. Der malaysische Maschine des Flugs MH17 wurde über der Ukraine abgeschossen. Russland verschleierte die Aufdeckung. Dennoch war Moskau überrascht, als Deutschland sich an den Sanktionen nach der Annexion beteiligte. 2015 wurde das Computernetzwerk des Bundestags gehackt. Spuren ließen sich bis zum militärischen Geheimdienst Russlands (GRU) zurückverfolgen. 2016 mischte sich Moskau in die US-Präsidentschaftswahlen ein, 2017 in die französischen. Überdies aktivierte der Kreml die Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in der EU. 2019 wurde ein Tschetschene in Berlin ermordet. Der Mord war vom russischen Geheimdienst angeordnet worden. Kurz: Russland zielt darauf ab, Unruhe zu stiften und die innenpolitische Stabilität in der EU zu untergraben. Dabei stehen eigener Machterhalt und Selbstbereicherung der Eliten im Mittelpunkt.

Um Moskau im Fall Nawalny zu bewegen, Ermittlungen einzuleiten, erwog Angela Merkel, die Nord-Stream-2-Pipeline als Druckmittel einzusetzen. Die Pipeline versorgt das System Putin und stattet auch die Firmen der Oligarchen mit Geldern und Kontakten aus. Längst ist dieses Modell auch in der EU aktiv. Merkel beließ es bei Überlegungen und tastete die Pipeline nicht an. Der Glaube, den Lieferanten zur Kompromissbereitschaft bewegen zu können, ist hartnäckig.

Das Fazit aus den Erfahrungen der letzten Jahre: Der Kreml lässt sich nicht unter Druck setzen. Die militärische Stärke der EU ist zu gering, auch sonst fehlen Druckmittel. Vielleicht wäre die „Auszeit“, die die russischen Außenpolitiker vorschlagen, tatsächlich eine Alternative. Zurzeit findet Kommunikation nur um des Redens willen statt. Die westliche Neigung zur Kommunikation beförderte aber selten Systemwandel. In Russland wird sie oft belächelt.

Klare Positionen sind Voraussetzung für jedes Gespräch – bar jeder Romantik. Moskau ist wieder ein autoritäres Regime. Diesmal nur ein anderes.

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