Aus türkischer Sicht ist Europa „von gestern“

Istanbul · Die Türkei braucht Europa nicht mehr und sollte sich schleunigst neu orientieren – mit diesem Vorstoß hat Yigit Bulut, ein enger Berater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tay yip Erdogan, gestern den EU-Kurs seines Landes öffentlich in Frage gestellt. Das schwindende Interesse der Regierung an Europa ist schon länger erkennbar.

Doch bislang betonte Ankara stets, am Beitrittsprozess werde festgehalten. Bulut plädiert nun dafür, die Taue zu kappen und sich ganz auf die USA zu konzentrieren .

Der ehemalige Journalist ist für seine exzentrischen Thesen bekannt. Im vorigen Jahr behauptete er, ausländische Kräfte wollten Erdogan per Gedankenübertragung aus der Ferne töten. Jetzt habe Bulut eine neue "verrückte Analyse" vorgelegt, erklärte der niederländische Europa-Politiker Joost Lagendijk zu den EU-Thesen des 42-Jährigen. Doch auch wenn Bulut hin und wieder merkwürdige Gedanken äußert - seine Ernennung zum Wirtschaftsberater Erdogans und sein politisches Gewicht im engeren Kreis um den Premier sagt einiges über den Kurs der Regierung aus. Erst kürzlich meldeten die Zeitungen, Erdogan habe in einer wichtigen finanzpolitischen Frage die Ansichten seines Vizepremiers Ali Babacan zurückgewiesen, der von Märkten und Investoren geschätzt wird. Stattdessen sei der Regierungschef der Meinung Buluts gefolgt.

In seiner Kolumne für die regierungsnahe Zeitung "Star" schrieb der Berater nun, die Türkei sei von Europa jahrelang gedemütigt und benutzt worden. Dies habe man heute nicht mehr nötig, zumal Europa nicht zu den globalen Machtzentren der Zukunft gehöre - anders als die Türkei. Buluts Weltsicht beruht auf der Annahme, dass sein Land ein weltpolitischer Aufsteiger ist. Zusammen mit Russland und dem Nahen Osten werde die Türkei einen von drei global wichtigen Blöcken bilden, schrieb er. Die beiden anderen Blöcke sind demnach die USA sowie eine Gruppe aus China, Indien und dem Iran. In der Konsequenz empfiehlt Bulut, das Verhältnis zu Washington zu vertiefen, die Beziehungen nach Europa aber "ohne weiteren Zeitverlust zu beenden".

Seine Ansichten beleuchten ein neues türkisches Machtbewusstsein sowie das distanzierte Verhältnis zwischen der Erdogan-Regierung und der EU. Auch Außenminister Ahmet Davutoglu vertritt die These, dass die Türkei keine passive Brückenfunktion zwischen Ost und West mehr ausfüllt, wie es in Europa häufig heißt. Der Minister sieht sein Land vielmehr als aktive Regionalmacht mit starker Wirtschaft und eigenen Interessen.

Die allerdings kollidieren immer häufiger mit den Grundwerten der EU. So reagierte Brüssel gereizt auf die Niederschlagung der Gezi-Proteste im vorigen Jahr, auf die jüngsten Internet-Verbote und die Versuche der Erdogan-Regierung, ihre Kontrolle über die türkische Justiz zu stärken. In den ohnehin schwierigen Beitrittsverhandlungen mit der EU geht nichts mehr voran. Und zumindest kurzfristig ist keine Wende in Sicht. Das türkische Parlament begann diese Woche mit der Beratung über ein neues Geheimdienst-Gesetz, das nach Ansicht von Kritikern die Macht der Sicherheitsbehörden deutlich erweitert, ohne angemessene Kontrollmechanismen einzuführen. Erdogan selbst attackierte derweil das Verfassungsgericht, das den gesperrten Zugang zum Kurzmitteilungsdienst Twitter wieder freigegeben hatte. Nach Presseberichten ist nun im Gespräch, die Befugnisse der obersten Richter einzuschränken.

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