Aus Meinungsforschern werden feindliche Agenten

Moskau · Völlig überrascht waren die Mitarbeiter des Moskauer Lewada-Zentrums nicht, als sie sich Anfang der Woche als "ausländische Agenten " auf der Website des Justizministeriums wiederfanden. Das soziologische Forschungszentrum ist Russlands einziges unabhängiges Umfrage-Institut und steht seit langem im Fokus der Sicherheitsbehörden.

Beobachter vermuten, das Vorgehen der Justiz könne mit der Parlamentswahl in knapp zwei Wochen zusammenhängen. Denn die erfolgsverwöhnte Kreml partei Einiges Russland (ER) schnitt in der jüngsten Lewada-Umfrage mit 31 Prozent Zustimmung eher kläglich ab. Innerhalb eines Monats hätte die Partei damit acht Prozentpunkte verloren. Dass sich der Trend durch negative Umfragewerte verstärken könnte, mag ein Grund für die hastige Maßnahme gewesen sein. Andererseits ermitteln auch kremlnahe Institute keine grundlegend besseren Resultate für die ER.

Die Bemühungen, das renommierte Institut lahmzulegen, reichen schon länger zurück. 2012 wurde das auf Nichtregierungsorganisationen abzielende Gesetz verabschiedet, im Jahr darauf flatterte Lewada die erste Aufforderung zur Registrierung als "ausländischer Agent" ins Haus. Das konnte damals noch abgewendet werden. Auch jetzt hofft Direktor Lew Gudkow, gegen die Entscheidung juristisch vorgehen zu können. Schlägt das fehl, müsste sich das Institut gegenüber Auftraggebern und Ansprechpartnern als "ausländischer Agent" zu erkennen geben.

Unter solchen Voraussetzungen wäre wissenschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Gudkow spricht denn auch vom drohenden "Ende der unabhängigen soziologischen Forschung im Lande". Verlässliche Daten über die Entwicklung der russischen Gesellschaft würden dann noch seltener. Auch für die Wissenschaft wäre die Schließung des Instituts ein großer Verlust. Aufwendige Langzeitstudien wie die zum Typus des "Homo Sovieticus" blieben auf der Strecke.

Erst im August ließ das Justizministerium die Räume des Instituts mehrere Tage lang durchsuchen. Zuvor hatte die kremlnahe Bewegung des "Antimaidan" das Ministerium aufgefordert zu prüfen, ob Lewada unter das Agentengesetz fällt. Seit 2012 seien umgerechnet gut 107 000 Euro von der US-Regierung an das Institut geflossen, behauptet die Bewegung. Zudem soll Lewada seinen akademischen Partner, die US-Universität Wisconsin, benutzt haben, um eine Verbindung zum Pentagon zu verschleiern. Gudkow wies diese Verschwörungstheorien von sich, in Russland fallen sie jedoch auf fruchtbaren Boden.

Der Antimaidan wurde 2015 als Hilfstrupp für Kreml-Chef Wladimir Putin gegründet. Die Bewegung hat zum Ziel, "orange Revolutionen" wie in der Ukraine zu unterdrücken. Auch der liberalen Opposition - in Russland gern die "fünfte Kolonne" genannt - sagte sie den "gewaltsamen Kampf" an. Lew Gudkow jedoch sieht nicht den Kreml als Drahtzieher der Aktionen gegen sein Institut. Er vermutet eher Groll der Sicherheitsministerien dahinter. "Die korrumpierte und mafiöse Macht reagiert gereizt auf Veröffentlichungen unserer Daten zur Korruption", sagt der Lewada-Chef. Die Vertreter der Sicherheitsstrukturen schreiben den Soziologen die Schuld dafür zu, dass sich das Bild der korrupten Machtelite in den Köpfen der Bürger festgesetzt hat.

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