Aufbau Ost in Zeitlupe

Berlin · Seit der Wiedervereinigung vor nunmehr fast einem viertel Jahrhundert ist viel über die "blühenden Landschaften" gespottet worden. Kabarettisten juxten, dass Helmut Kohls lyrische Vision vom Osten allenfalls noch durch ein paar wenige intakte Betriebe getrübt werde.

Tatsächlich war der Traum des Altkanzlers von der raschen Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen alten und neuen Bundesländern reichlich kühn. Die satirische Schwarzmalerei wird der Wirklichkeit allerdings genauso wenig gerecht. Vielmehr liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Davon kündet auch der jüngste Regierungsbericht zum Stand der deutschen Einheit.

Wer heute Dresden besucht, oder Jena und Weimar über die Autobahn ansteuert, wird sich den gewaltigen Veränderungen seit 1990 nicht entziehen können. Der traurige Verfall der Innenstädte wurde durch ein groß angelegtes Sanierungsprogramm gestoppt. Die Verkehrsinfrastruktur wurde praktisch komplett erneuert. Und auch die verheerende Umweltverschmutzung zwischen Borna und Bitterfeld ist nur noch ein dunkles Kapitel im Geschichtsbuch. Aber das alles ist eben nur die halbe Wahrheit. Denn spätestens seit der Jahrtausendwende findet die ökonomische Aufholjagd nur noch im Zeitlupentempo statt. Die Wirtschaft im Osten ist nach wie vor sehr kleinbetrieblich geprägt. Auch ist der Anteil der Zulieferindustrie deutlich höher als im Westen. Damit dienen die neuen Länder oft gewissermaßen nur als verlängerte Werkbank. Und als Reservoir für gut ausgebildet, aber vergleichsweise billige Arbeitskräfte. Wegen der Deindustrialisierung in den 1990er Jahren sind viele junge Leute aus Brandenburg oder Sachsen-Anhalt nach Baden-Württemberg oder Bayern abgewandert, pendeln bis heute noch immer viele Thüringer zur Arbeit nach Hessen. Wer als Ostdeutscher damals zu alt war, um neu anzufangen, wurde mit gut dotierten Vorruhestandsreglungen nach Hause geschickt. Solche Tatsachen beschönigen den statistisch ausgewiesenen Umfang der Arbeitslosigkeit im Osten. Und trotzdem liegt sie heute immer noch um mehr als ein Drittel höher als im Westen. Durch das weitgehende Fehlen von Großunternehmen im Osten wird übrigens auch ein struktureller Nachteil zementiert. Denn gerade im Umfeld von Konzernzentralen sind erfahrungsgemäß hoch qualifizierte Jobs mit einer hohen Wertschöpfung angesiedelt.

Bedingt durch solche Defizite ist nicht nur das ostdeutsche Steueraufkommen noch weit entfernt vom Westniveau. Auch ein ostdeutsches Musterland wie Sachsen nimmt sich im gesamtdeutschen Vergleich bescheiden aus. So liegt die Wirtschaftskraft je Einwohner im Freistaat zwar um sechs Prozent über der in Mecklenburg-Vorpommern, aber immer noch um 14 Prozent unter dem Niveau des wirtschaftsschwächsten westdeutschen Landes Schleswig-Holstein.

Schon diese Betrachtung zeigt, dass der Aufbau Ost mit dem Auslaufen des Solidarpaktes von Bund und Ländern Ende 2019 nicht abgeschlossen sein kann. Wenn die Wirtschaftskraft nur zwei Drittel der alten Länder beträgt und das Steueraufkommen noch deutlich niedriger liegt, sind weitere Extra-Hilfen nötig. Dann aber auch für strukturschwache Regionen im Westen, die ähnlich schlechte Daten vorzuweisen haben. Alles andere wäre politisch nicht mehr vermittelbar.

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