Auf der Seite der Vergessenen

Paris · Latifa Ibn Ziaten stand am 13. November am Grab ihres Sohnes in Marokko, als ihr Mann sie anrief und von der Anschlagserie mit 130 Toten in Paris berichtete. Sofort kam die Erinnerung an den 11. März 2012 zurück - den Tag, an dem der Islamist Mohammed Merah ihren Sohn Imad erschoss.

Der 30-jährige Soldat war damals das erste Opfer des Serien-Attentäters von Toulouse. "Seither bin ich verletzt, zerrissen. Doch ich bleibe aufrecht, um die Werte der Republik zu verteidigen", schrieb die fünffache Mutter nach den Pariser Anschlägen in der Online-Zeitung "Huffington Post".

Ziaten warnt eindringlich davor, die Attentäter mit den fünf Millionen Muslimen gleichzusetzen, die in Frankreich leben: "Die radikalisierten Jugendlichen wissen nichts vom Islam." Das hat die 55-Jährige erfahren, als sie nach dem Tod ihres Sohnes die Vorstadt von Toulouse besuchte, in der Merah aufwuchs. Der Attentäter wurde dort von den Jugendlichen als Held und "Märtyrer des Islam" gefeiert. Erst als Imads Mutter sich zu erkennen gab, entschuldigten sich die Vorstadt-Bewohner. Dieses Erlebnis war so einschneidend, dass die 55-Jährige die Imad-Ibn-Ziaten-Stiftung gründete, um "auf die andere Seite zu gehen" - zu jenen, die sich von der Republik vernachlässigt fühlen.

Für ihr Engagement erhielt die gebürtige Marokkanerin vorige Woche den Jacques-Chirac-Preis für Gewaltprävention. Ziaten, die seit dem Tod ihres Sohnes aus Trauer das Kopftuch trägt, prangerte in ihrer Rede die Zustände in den Banlieues an, aus denen auch die Attentäter des 13. November kamen: "95 Prozent der Kinder dort sind nordafrikanischer Herkunft. Sie können nicht vorankommen, sich integrieren, Frankreich lieben. Um Frankreich zu lieben, braucht es Verschiedenartigkeit, Durchmischung."

Ziaten, die mit 17 heiratete und nach Frankreich kam, hat ihre eigenen Erfahrungen mit Integra tion gemacht: "Man hat für mich die Arme geöffnet", sagte sie 2012 in einem Zeitungsinterview. Eine Sozialarbeiterin habe sich ihrer angenommen und ihr erklärt, wo sie Französisch lernen und wie sie Arbeit finden könne. "Das vergisst man nicht."

Seit dem Tod ihres Sohnes geht Latifa Ibn Ziaten nicht nur in Schulen, sondern auch in Gefängnisse, die als Orte der Radikalisierung bekannt sind. Sie kritisiert, dass die Häftlinge weitgehend sich selbst überlassen sind. "Ich habe mich lange gefragt, warum Merah meinen Sohn getötet hat. Wenn ich Gefängnisse besuche, merke ich, wie sehr der Hass dort gedeiht." Deshalb kümmert sich die engagierte Mutter auch um Entlassene, zwei von ihnen betreute sie zuletzt monatelang.

Unermüdlich versucht die 55-Jährige, gefährdete Jugendliche zu erreichen. Wochentags übernachtet sie deshalb in Hotelzimmern, weit weg von ihrem Zuhause bei Rouen in Nordfrankreich. Doch mit zwei Mitarbeitern und einem Büro, in dem es nicht einmal eine Toilette gibt, sind ihre Möglichkeiten begrenzt. "Ich brauche Hilfe, um die Botschaft des Friedens und des Zusammenlebens weiterzugeben", erklärte sie vorige Woche an die Adresse von Präsident François Hollande gewandt. "Wenn Sie mir nicht helfen, verliere ich den Mut."

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