Auf dem Weg in die Diktatur

Die regierungstreue Justiz sperrt den Chefredakteur einer großen Zeitung ein. Sogar Autoren einer Fernsehserie werden von der Anti-Terror-Polizei abgeholt. Insgesamt werden über 30 Haftbefehle gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner erlassen.

Die EU ist empört und spricht von einem Verstoß gegen demokratische Normen. Was ist bloß in den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gefahren?

Um die Frage zu beantworten, muss man sich in die Welt versetzen, in der Erdogan und seine Gefolgsleute leben. Denn er sieht sich selbst als ein Opfer undemokratischer Angriffe. Das mag erstaunen, hat aber mit den Erfahrungen der islamisch-konservativen Türken unter der langen Herrschaft der säkularistischen Eliten zu tun. Bis Erdogan die Militärs entmachtete und das Monopol der Säkularisten in den Führungspositionen von Staat und Gesellschaft beendete, fühlten sich fromme Türken mit einigem Recht als Bürger zweiter Klasse. Ihre Parteien wurden verboten, ihre Politiker - auch Erdogan - kamen ins Gefängnis.

Sein großes Versagen besteht darin, dass er diese Vergangenheit nicht hinter sich lassen kann. Er sieht sich noch immer von Feinden umringt. Deshalb meint Erdogan es durchaus ernst, wenn er die Festnahmen der Journalisten vom Wochenende als Quittung für anti-demokratische Machenschaften rechtfertigt. Was von außen absurd wirkt, erscheint dem Präsidenten konsequent und notwendig: Die Grundregeln der Demokratie verletzen, um die Demokratie zu retten.

Ein solcher Realitätsverlust ist keine Spezialität der Türkei. Adenauer verhielt sich in der "Spiegel"-Affäre ähnlich, sprach von "einem Abgrund von Landesverrat". Die Affäre endete für die damalige Bundesregierung mit einer Niederlage auf ganzer Linie. Ob das für Erdogan auch so sein wird, steht noch nicht fest.

Das Problem ist, dass sich die türkische Demokratie nicht auf starke und unabhängige Institutionen wie die Justiz stützen kann, um eine außer Kontrolle geratene Regierung in die Schranken zu weisen. Die Opposition sieht das Land daher auf dem Weg in die Diktatur .

Nach dem Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung vor einem Jahr ließ Erdogan zahlreiche Richter und Staatsanwälte austauschen. Viele der neu ins Amt gebrachten Juristen tun das, was der Präsident verlangt, und nicht das, was nach demokratischen Spielregeln das Richtige wäre. Angeblich wurde die Liste der Festzunehmenden sogar von Erdogan und seinen Beratern ausgearbeitet.

Missstände solcher Dimensionen lassen sich nicht über Nacht korrigieren und auch nicht von der EU. Nur die Türken selbst haben die Macht, ihrem Präsidenten klarzumachen, dass er seinem Land mit dem immer radikaleren Vorgehen gegen tatsächliche oder eingebildete Feinde schweren Schaden zufügt.

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