Analyse Joe Biden nutzt die Krise für radikalen Wandel

Washington · Joe Biden ist angetreten, um Amerikas Seele zu retten. Den autoritären Anwandlungen Donald Trumps wollte er ein klares Bekenntnis zur Demokratie entgegensetzen. Mittlerweile ist klar, dass sich sein Ehrgeiz keineswegs darauf beschränkt, nach den Turbulenzen der Trump-Jahre zur alten Ordnung zurückzukehren.

 Will nicht nur ein Anti-Trump sein, sondern auch ein Anti-Reagan: der neue US-Präsident Joe Biden.

Will nicht nur ein Anti-Trump sein, sondern auch ein Anti-Reagan: der neue US-Präsident Joe Biden.

Foto: dpa/Andrew Harnik

Vielmehr versucht er die Chance der Corona-Krise für einen Kurswechsel zu nutzen, der radikaler ausfällt, als ihm die meisten zugetraut hatten. Biden will mehr sein als der Anti-Trump, nämlich auch der Anti-Reagan. Mit Ronald Reagan setzte sich im amerikanischen Diskurs die Auffassung durch, dass der Staat privater Initiative nur im Weg stehe und sich daher so weit wie möglich aus dem Leben der Bürger zurückzuziehen habe. Auch als die Demokraten Bill Clinton und Barack Obama regierten, änderte sich daran nicht viel. Nun will ausgerechnet Biden, der es lange Zeit ähnlich sah, die Weichen neu stellen.

Die Wandlung von der Nummer sicher zur treibenden Kraft des Wandels, sie kommt nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick scheint. Schon im vorigen Sommer –  das Rennen um die Kandidatur war gewonnen – sprach Biden vom „revolutionären institutionellen Wandel“, auf den sich Amerika einstellen solle. Schon damals machte er klar, wem er nacheifern würde: Franklin D. Roosevelt, dem Präsidenten, der die USA mit dem New Deal, einem Bündel groß angelegter Staatsprogramme, aus dem Tal der Weltwirtschaftskrise holte. Menschen in Lohn und Brot bringen und die Infrastruktur mit einem Kraftakt modernisieren: Die Prioritäten sind die gleichen wie in den 1930er Jahren.

Mit dem New Deal wurden 20 Millionen Arbeitsplätze geschaffen, 39 000 Schulen, 2500 Krankenhäuser und 325 Flughäfen gebaut. Biden will 20 000 Meilen Straßen und 10 000 Brücken erneuern sowie 500 000 neue Ladestationen für Elektroautos installieren lassen. Bei seinem „American Jobs Plan“ geht es allerdings auch darum, Klimaschutzprojekte zu fördern, viel Geld in Forschung und Entwicklung zu stecken und Alten- wie Krankenpfleger deutlich besser als bisher zu entlohnen. Der 78-Jährige spricht von einer „Mobilisierung staatlicher Investitionen“, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben habe. Das Tauziehen darum dürfte den Politikbetrieb Washingtons auf Monate prägen.

Ob der Kongress die mehr als zwei Billionen Dollar bewilligt, die das Weiße Haus für die Staatsoffensive veranschlagt, ist keineswegs sicher. Die Republikaner, die das Paket für überflüssig halten, weil die Zeichen in der Privatwirtschaft auch ohne zusätzlichen Stimulus wieder auf Wachstum stehen, haben heftigen Widerstand angekündigt. Und ob es Biden gelingt, die 50 demokratischen Senatoren, auf deren Stimmen er angewiesen ist, bei der Stange zu halten, weiß niemand zu sagen.

Biden, so der Historiker Michael Kazin, wolle den Amerikanern – egal welcher politischen Überzeugung –  beweisen, dass die Regierung in der Lage ist, sich ihrer Sorgen anzunehmen.

Biden weiß nur zu gut, woran seine Leistung zuallererst gemessen wird: daran, wie schnell es dem Land gelingt, die Pandemie hinter sich zu lassen. Folgerichtig konzentriert er sich ganz auf die Impfkampagne. Die Bundesregierung garantiert den Nachschub, derzeit so zuverlässig, wie es noch zu Jahresbeginn kaum zu erwarten war. Nicht alles läuft reibungslos, doch wie der Präsident aufs Tempo drückt, beeindruckt selbst seine Kritiker. Bis zu seinem 100. Amtstag Ende April sollen 200 Millionen Amerikaner mindestens eine Spritze bekommen haben, das Doppelte dessen, was er vor seiner Vereidigung angepeilt hatte. Im Augenblick deutet alles darauf hin, dass er die Marke pünktlich erreicht.

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