Analyse Das Virus hat längst das System Putin befallen

Moskau · Gut ist gerade wenig im Lande Putins. Corona hat das politische Jahr, wie der Kreml es geplant hatte, vollkommen durcheinandergewirbelt. Die Abstimmung zur Verfassungsänderung, mit der Putin sich die Chance geschaffen hatte, noch bis 2036 im Amt bleiben zu können, musste verschoben werden.

 Kleinlaut und schwach in der Krise: Russlands Präsident Wladimir Putin   Foto: Alexei Druzhinin/Pool Sputnik Kremlin/dpa

Kleinlaut und schwach in der Krise: Russlands Präsident Wladimir Putin Foto: Alexei Druzhinin/Pool Sputnik Kremlin/dpa

Foto: dpa/Alexei Druzhinin

Wie auch die große Militärparade am 9. Mai. Es war eine bittere Entscheidung in einem Land, für das die staatliche Inszenierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ein Stück Identität ist.

Heute vor 20 Jahren wurde Putin zum ersten Mal als Präsident vereidigt. Es begann eine Zeit, in der er stets den Kümmerer gab und den Menschen stets zu vermitteln versucht hatte, er lotse sie durch alle Krisen hindurch. In Zeiten von Corona gibt Putin allerdings eine schwache Figur ab. Er ist geradezu kleinlaut. Alte Tricks, wonach andere – innerhalb und außerhalb des Landes – schuld an Missständen in Russland seien, greifen nicht mehr. Das Virus lässt sich nicht wegreden. Die Infektionen nehmen täglich um 10 000 neue Fälle zu. Mittlerweile sind nach offiziellen Angaben mehr als 165 000 Menschen in Russland an Covid-19 erkrankt, die Dunkelziffer liege um vieles höher, sagen selbst die Behörden. Und das obwohl die Menschen seit bald sechs Wochen in der sogenannten „Selbstisolation für alle“ sitzen und auch weitersitzen sollen, wie es beim gestrigen Videotreffen Putins mit Ministern und Gouverneuren hieß. Rausgehen ist nur unter strengen Auflagen möglich, Spaziergänge sind explizit verboten. Die Strafen wegen Verstößen sind hoch. Vor allem in den Regionen steht es schlecht um die medizinische Versorgung. Ärzte legen ihre Arbeit nieder, weil nicht genug Schutzausrüstung vorhanden ist. Quer durchs Land stürzen Mediziner aus noch ungeklärten Gründen aus Klinikfenstern, sie hatten alle mit Coronapatienten zu tun.

Wochenlang gab Putin den Gegner harter Maßnahmen. Russland hatte bereits im Januar die Grenze zu China dichtgemacht und ruhte sich zu sehr darauf aus, das Virus sei eine „Sache der anderen“. Dass die „Sache“ da längst die „eigene“ war, zeigen Statistiken, die bereits Anfang des Jahres viel höhere Zahlen an Lungenentzündungen im Vergleich zum vergangenen Jahr lieferten. Die Führung wischte die Bedenken beiseite. Der Ministerpräsident Michail Mischustin sagte noch Mitte März, die Gefahr für Russland sei minimal. Seit vergangenem Donnerstag befindet er sich wegen Covid-19 in der Klinik. Die Gefahr hat die Führung erreicht.

In langatmigen Videokonferenzen, die live im staatlichen Fernsehen übertragen werden, delegiert Putin Aufgaben an die Gouverneure. Die Regionalverantwortlichen, die es längst verlernt haben, etwas entscheiden zu müssen, weil der Kreml ihre Machtbefugnisse stetig beschränkte, sollen plötzlich Entscheidungen treffen. Manche übertreiben es mit der Entscheidungsfreude, manche sind vollkommen überfordert. Beklagen sie sich über die Unterversorgung der medizinischen Ausrüstung oder wegen finanzieller Engpässe, schimpft Putin: „Dann ran an die Arbeit, meine Herren!“ Obwohl Russland zu den Ländern mit den größten Geld- und Goldreserven gehört, gibt es sehr dünne Krisenpakete, die der Staat zu schnüren bereit ist. Die Beliebtheitswerte des Präsidenten sind so niedrig wie noch nie. Putin selbst werde zum Feind seiner viel beschworenen Stabilität, schreibt der Politologe Andrej Perzew in seiner Analyse fürs Moskauer Carnegie-Zentrum. Analysten rechnen mit zehn Millionen Arbeitslosen, der Ölpreis-Crash verschärft die Krise. So mancher Gouverneur hat angefangen, Ferkel und Kartoffeln an Corona-Geschädigte zu verschenken. Das Virus hat längst das System Putin befallen.

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