Menschenrechte in Europa Die letzte Chance auf Gerechtigkeit ist in Gefahr

STRASSBURG (dpa) Er ist oft die letzte Hoffnung für Menschen, die gefoltert wurden, zu Unrecht in Haft sitzen oder auf andere Weise in ihren Grundrechten verletzt wurden. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht auf zunehmend wackligen Beinen. „Der EGMR ist in großer Gefahr, vielleicht mehr denn je“, sagt Maria Scharlau, Menschenrechtsexpertin bei Amnesty International. Zu kämpfen hat das Straßburger Gericht an mehreren Fronten: mit sich selbst, mit Geldnot, mit starren Verfahrensregeln und mit Staaten, die seine Autorität immer stärker in Frage stellen.

Da ist zum einen die Riesenlast an Alt-Fällen, die auf ihre Bearbeitung warten: 56 000 waren es zuletzt. Oft fallen Urteile erst viele Jahre nach der Klage. Gestern zum Beispiel wollte das Gericht Entscheidungen zu Beschwerden aus den Jahren 2008 und 2011 verkünden. Menschen, denen zum Teil Schreckliches widerfahren ist, müssen also oft lange warten, bis ihnen späte Gerechtigkeit zu Teil wird – meist in Form von Entschädigungszahlungen. „Der EGMR krankt an seinem eigenen Erfolg“, sagt Menschenrechtsanwalt Roland Giebenrath. Allein im vergangenen Jahr gingen in Straßburg mehr als 60 000 Beschwerden ein.

Dabei habe die Verfahrensdauer bereits erfreulich abgenommen, betont Giebenrath. Das Gericht habe sich diverse Reformen verordnet, um der Beschwerde-Flut Herr zu werden. „Diese Reformen haben sicherlich teilweise gegriffen, reichen aber nicht aus.“ Ein Problem bleibt dem Anwalt zufolge zudem das „verschwindend geringe“ Budget. Gerade einmal knapp 72 Millionen Euro stehen dem EGMR 2018 zur Verfügung – etwa so viel hat die deutsche Bundesregierung allein für den G20-Gipfel in Hamburg ausgegeben. Auch um die Zukunft der Finanzen ist es nicht rosig bestellt, gehört das Gericht doch zum Europarat, der selbst mit Geldsorgen kämpft. Russland fror zuletzt seine Beitragszahlungen für die Straßburger Staatenorganisation mit ihren insgesamt 47 Mitgliedstaaten ein. Auch die Türkei droht damit, Zahlungen zu kürzen.

„Anscheinend wollen viele Mitgliedstaaten des Europarates gar nicht, dass der EGMR effizienter wird, und verweigern daher eine bessere finanzielle Ausstattung“, sagt Giebenrath. Der EGMR brauche zwei- bis dreimal so viel Geld und deutlich mehr juristische Mitarbeiter, um die angehäuften Fälle abarbeiten zu können.

Gerade in der Türkei sehen Menschen im EGMR oft ihre einzige Chance auf Gerechtigkeit. Seit dem Putschversuch 2016 wurden in dem Land Zehntausende inhaftiert. Mehr als 30 000 Menschen wandten sich an Straßburg. Doch die allermeisten scheiterten. Das Gericht wies 2017 mehr als 27 000 Beschwerden ab – mit der Begründung, dass sich die Beschwerdeführer noch nicht durch alle Instanzen geklagt hätten. Das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich das Straßburger Gericht mit einem Fall beschäftigt.

Späte Urteile und abgewiesene Klagen – hilft der EGMR also kaum noch jemandem? Die Menschenrechtsexpertin Scharlau widerspricht da entschieden: „Seine Urteile haben schon wirklich oft einen großen Unterschied gemacht.“ So musste Deutschland sein System zur Sicherungsverwahrung von Straftätern nachbessern. Auch wurde Deutschland für die Praxis gerügt, Verdächtigen Brechmittel zu verabreichen, um an verschluckte Drogenpäckchen zu gelangen. Für die Beschwerdeführer machten auch späte Urteile „einen Riesenunterschied“, sagt Scharlau. Da gehe es einfach um die Anerkennung von erlittenem Unrecht. „Der Mehrwert durch den Gerichtshof ist enorm.“ Umso besorgter ist sie über die feindlichen Strömungen in gleich mehreren Ländern – auch in der Schweiz und Großbritannien gibt es Bestrebungen, den EGMR entscheidend zu schwächen.

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