Patt bei Parlamentswahlen In Israel könnte die Herrschaft der Frommen enden

Während Benjamin Netanjahu und Benny Gantz, die zwei Spitzenkandidaten bei der Parlamentswahl in Israel, vor einem quälenden Patt stehen, sind Israels orthodoxe Parteien gleichzeitig Gewinner und Verlierer.

Wahlen in Israel: Orthodoxe könnten die Verlierer sein
Foto: Knaul

Das steht schon vor Auszählung der letzten Stimmen fest. Gewinner, weil die beiden Listen die Zahl der Mandate insgesamt leicht erhöhen konnten. Verlierer, weil sie seit Jahrzehnten zum ersten Mal ernsthaft Gefahr laufen, nicht Teil der Regierungs-Koalition zu sein. Das klare Votum für Avigdor Lieberman, der mit neun Mandaten für seine weltlich-nationale Partei Israel Beteinu fast doppelt so gut abschnitt wie bei den Wahlen im April, ist Indikator dafür, dass Sorge und Unmut angesichts der wachsenden Macht der Frommen im Land zunehmen.

Lieberman sagt dem orthodoxen Establishment den Kampf an. Er verlangt gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle Bürger, vor allem in der Frage des Militärdienstes, dem sich die Orthodoxen entziehen. Bei den Parlamentswahlen ging es daher nicht nur um den Machtkampf zwischen Netanjahu und Gantz, sondern auch um Staat und Religion. Nirgends ist das Wahlverhalten in Israel disziplinierter als bei den Orthodoxen. Man wählt, weil der Rabbiner es sagt, und man wählt, was er sagt. Die Parteien wachsen im gleichen Tempo wie die orthodoxe Bevölkerung – gut zweimal schneller als die weltliche. Schon heute kommt jeder vierte Erstklässler in Israels Schulen aus der Gruppe der Orthodoxen. Seit der Staatsgründung halten die Rabbiner ein Monopol auf sämtliche Familienrechte. Israels erster Regierungschef David Ben-Gurion gab den Forderungen der Orthodoxen nach, um sie mit ins Boot zu bekommen bei der Gründung des Judenstaates, die für Ultraorthodoxe eigentlich einer Gotteslästerung gleichkam. Ben-Gurions fauler Kompromiss hat bis heute Konsequenzen.

Wer nicht nach religiösen Regeln heiraten will, muss ins Ausland reisen. Die Rabbiner diktieren, wer koscher isst und wer am heiligen Schabbat arbeiten darf. Was den Staat und die Bürger aber besonders teuer zu stehen kommt, ist das religiöse Bildungssystem. Die Frommen in Israel genießen Sonderrechte, von denen die arabischen Bürger nur träumen können, vor allem kulturelle Autonomie. Die arabische Minderheit wünscht sich, zusätzlich zur Geschichte der Juden auch die Geschichte der Palästinenser unterrichten zu dürfen. Ein kleiner Spielraum im staatlichen Lehrplan würde schon reichen.

In den Schulen der Orthodoxen werden Talmud und Thora gelehrt, während Englisch und Mathematik auf der Strecke bleiben. Das sind verheerende Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung.

Lieberman will dem ein Ende machen. Die Einführung standesamtlicher Eheschließungen steht seit Jahren auf seiner Agenda. Vorläufig hielten ihn die frommen Koalitionspartner von einer Umsetzung ab. Eine Koalition ohne orthodoxe Beteiligung könnte den grenzenlosen Privilegien ein Ende machen. Jetzt rückt die Trennung von Staat und Religion in Israel in greifbare Nähe – endlich.

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