Leitartikel Von der Leyens Visionen scheitern an der Realität

Ursula von der Leyen hat Recht. In jedem Punkt. Die Präsidentin der Europäischen Kommission hielt eine große Rede, die nur ein wirkliches Manko hatte: Sie wird nicht viel verändern.

 Detlef Drewes

Detlef Drewes

Foto: SZ/Lorenz, Robby

Denn an den entscheidenden Stellen ihres Zukunftsentwurfes blieb sie Antworten schuldig und beschränkte sich – wie beim Abschnitt über ein neues Asylrecht – auf den Satz „Alle müssen mitmachen.“ Das stimmt, ist schon fast banal, hat aber mit der Wirklichkeit dieser Gemeinschaft nur wenig zu tun. Es sind nicht mehr die Werte, die diese Völkerfamilie zusammenhalten, sondern das Geld. Die Beratungen über den nächsten Etatrahmen und das Aufbauprogramm vor einigen Wochen enthüllten dies fast schon erschreckend. Aus einem ambitionierten Rechtsstaatsmechanismus wurde ein leeres Versprechen. Und so bleibt nach der engagierten Ansprache der Kommissionspräsidentin vor allem das schale Gefühl, dass sie spätestens in der kommenden Woche rüde ausgebremst werden wird, wenn sie von den Staaten in Sachen Asylrecht Zugeständnisse einfordert.

Natürlich ist dieses Bild einseitig, sogar unfair. Weil Länder wie Deutschland und Frankreich in der Pandemie über ihren Schatten gesprungen sind und gemeinsame Schuldscheine akzeptierten, um den Aufbau ihrer Nachbarn zu unterstützen. Aber bei praktisch keinem anderen Thema liegen die Mitgliedstaaten auf einer Linie. Weder bei Frage, ob der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko auch persönlich abgestraft werden soll, noch beim Thema Weiterbau von Nord Stream 2 gibt es Einigkeit. Und selbst der viel beschworene Green Deal wird noch für erhebliche Verwerfungen sorgen, wenn die Arbeit an den Details erst einmal begonnen hat und die nationalen Ziele für 2030 und 2050 definiert wurden.

Von der Leyen weiß, dass es eine latente Antipathie vieler Staats- und Regierungschefs gegen die Zentralbehörde in Brüssel gibt. Mehr Macht für die EU ist nicht populär, aber auf viele Herausforderungen die einzig richtige Antwort. Von der ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin hatten sich nicht wenige so etwas wie einen institutionellen Neuanfang gewünscht, eine Art Revision der Beziehungen zwischen Brüssel und den Regierungshauptstädten. Man hätte nicht nur gerne gewusst, was sie plant, sondern auch mit welcher Union sie diese Ziele erreichen will.

Vor allem deshalb bleibt die gestrige Rede auf halber Strecke stecken. Die Abgeordneten und die Bürger wissen zwar jetzt, was demnächst auf der Agenda steht. Aber sie fragen sich, was davon überhaupt machbar ist. Dass 27 Staats- und Regierungschefs über Themen unterschiedlicher Meinung sind, heißt noch nicht Spaltung. Streit ist immer auch eine kreative Kraft. Aber solange sich die Führungskräfte aus den Mitgliedstaaten gegenseitig nur blockieren und damit sogar die Lösung selbstverständlicher Menschenrechtsfragen wie beim Umgang mit Flüchtlingen aus Kriegsgebieten verhindern, hat die gesamte Gemeinschaft ein Problem. Von der Leyen hinterließ gestern nicht den Eindruck, einen Weg aus dieser Krise zu wissen.

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