Leitartikel Von der Leyen muss ihrem Team auf die Finger sehen
Ursula von der Leyen ist nicht am Ziel. Sie steht am Anfang. Nun muss die zweite Deutsche an der Spitze der mächtigsten EU-Behörde liefern. Bis zum gestrigen Tag reichte es vielleicht, eine „Agenda des Wandels“ anzukündigen und von einem neuen Aufbruch beim Klimaschutz zu sprechen.
Doch das wäre ab sofort zu wenig. Von der Leyen hat aber auch bereits zu spüren bekommen, dass ihr ein allzu ausgeprägt „rotgrüner“ Ehrgeiz nicht guttut, weil ihr dann die Christdemokraten als Basis jeder parlamentarischen Mehrheit abhanden kommen. Doch wie organisiert man einen ökologischen Aufbruch, der den Erwartungen der jungen Generation, der Arbeitnehmer in den energieintensiven Produktionsbereichen und den ohnehin skeptischen Regierungen im Osten so passt, dass er auch mehrheitsfähig ist?
Das Europäische Parlament hat die neue Kommission mit einer komfortablen Mehrheit als Vertrauensvorschuss bedacht. Es gab keine Fraktion, in der es nicht anhaltende Bedenken gab. Zum Schluss überwog jedoch der Wunsch, endlich mit der Arbeit anfangen zu können.
Allerdings muss sich diese Kommission noch freischwimmen – vor allem vom politischen Einfluss der Staats- und Regierungschefs. Es ist beileibe nicht nur der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der die Präsidentin und seinen starken Binnenmarkt-Kommissar nur allzu gerne für eigene Interessen nutzen würde. Aber die so dringend nötige und überfällige europäische Gesetzgebung als Antwort auf zentrale Herausforderungen darf nicht zu einer Verlängerung nationaler Egoismen verkommen. Das gilt für Handelsverträge und die sozialpolitischen Initiativen ebenso wie für die Forschung oder die gemeinsame Linie in Sachen Staatsfinanzen und abgestimmter Wirtschaftspolitik. Auch da muss Ursula von der Leyen ihrer Mannschaft auf die Finger sehen. Denn der Brüsseler Apparat funktioniert nicht ohne Anleitung europäisch rund. Von der Leyens Gesellenstück steht 2020 an, wenn man sich auf einen neuen Ausgabenrahmen für die künftige Finanzperiode ab 2021 verständigen muss. Dann geht es nämlich nicht nur um die Frage, wer wie viel einzahlt und ob rechtsstaatlich bedenkliche Tendenzen in einigen Mitgliedstaaten mit dem Entzug von Subventionen und Stimmrechten geahndet werden sollen. Vor allem steht die Frage im Hintergrund, die jedes Land für sich beantworten muss: Was ist uns die EU wert? Und dann wird die CDU-Politikerin nicht mehr im Namen des größten Mitgliedslandes sprechen oder gar entscheiden können. Dann braucht sie den Schulterschluss mit einem selbstbewusster und zerstritten gewordenen EU-Parlament und einer Runde von Staatenlenkern, in der lange bewährte Formen von Abstimmung und Koordination wie zwischen Paris und Berlin nicht mehr funktionieren. Angesichts dieser Herausforderung könnte der Chefsessel der Brüsseler Kommission reichlich unbequem werden. Aber Ursula von der Leyen hat, so wirkte sie gestern, den Mut, mutig zu sein, und die Entschlossenheit, entschlossen zu handeln. Die EU wartet darauf.